Linn Vertein

Wenn der „Mutterinstinkt“ nicht einsetzt

Mutterschaft gilt als natürlich, mütterliche Liebe als instinktiv – doch die Realität nach der Geburt ist oft komplexer: Eine stille Krise, die viele trifft, aber kaum jemand ausspricht.

Postpartale Depression: Die Sorgen kreisen darum, nicht in der Lage zu sein, sich angemessen um das eigene Kind kümmern zu können,

Postpartale Depression: Die Sorgen kreisen darum, nicht in der Lage zu sein, sich angemessen um das eigene Kind kümmern zu können,

Bild: Adobestock/tania

Kaum etwas gilt gemeinhin als so ursprünglich und natürlich wie die Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Ohne Frage ist die Mutter-Kind-Beziehung die erste und damit eine sehr entscheidende Bindungserfahrung für das Neugeborene und wegweisend für seine weitere Entwicklung. Ein ganzer Strang der Psychologie, speziell der Psychoanalyse, hat diese frühe Bindungserfahrung zum Ausgangspunkt.

Historisch betrachtet ist das Ideal der Mutterliebe allerdings ein eher junges Phänomen. Sie ist als Vorstellung eng verbunden mit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer arbeitsteiligen Produktionsweise. Im Zuge dieser Veränderungen entstand überhaupt erst jene Idee von Kindheit und Erziehung, wie man sie heute kennt: dass ein Kind und die Kindheit etwas Delikates und Wertvolles sind. Ein Kind, das mehrere Jahre eng von der eigenen Mutter umsorgt wird, das wäre vor dem 17. Jahrhundert eher unüblich gewesen. Kinderleben waren wenig wert, das lag auch an der hohen Kindersterblichkeit. In wohlhabenden Schichten wurden Neugeborene nach ihrer Geburt in die Obhut einer Amme gegeben. Und da es keine Verhütungsmittel gab, gab es auch so etwas wie ein Wunschkind nicht. Unter armen Leuten war das Synonym für Schwangerschaft „das große Unglück“.

Heute ist das anders, nicht selten sehen Eltern ihre Kinder als eine Art Erweiterung der eigenen Person. Der Nachwuchs soll im Idealfall jene Träume und Ziele erreichen, die ihnen selbst unerfüllt geblieben sind. Wohl so sehr wie noch nie zuvor in der Geschichte richten Eltern heutzutage ihr Leben nach den Bedürfnissen ihres Nachwuchses aus.

Das Tabu der postpartalen Depression

Und die idealisierte Mutterliebe fungiert bis heute als eine Art Gradmesser für Weiblichkeit. Umso erschreckender und schambehafteter, wenn eine neue Mutter nach der Geburt ihres Kindes nicht plötzlich vom Blitz des „Mutterinstinkts“ getroffen wird und statt in Freudentränen auszubrechen in eine Depression verfällt.

Man unterscheidet dabei die postpartale Depression vom Babyblues, der umgangssprachlich ein kurzweiliges Stimmungstief bezeichnet, das nach der Geburt eines Kindes auftreten kann und das 50 bis 80 Prozent der Mütter erleben. Verfliegt die Niedergeschlagenheit nicht nach ein paar Tagen, spricht man von einer postpartalen Depression. Diese unterscheidet sich von einer herkömmlichen Depression maßgeblich durch Zwangsgedanken. Die Sorgen kreisen darum, nicht in der Lage zu sein, sich angemessen um das eigene Kind kümmern zu können, und können im äußersten Fall auch davon handeln, dem Kind Schaden zuzufügen.

Betroffen sind nicht nur Mütter

Ungefähr 10 bis 15 Prozent der Mütter in Deutschland sind von postpartaler Depression betroffen, die Dunkelziffer wird als hoch eingeschätzt. Begünstigende Faktoren für die Erkrankung reichen von Hormonveränderungen, Komplikationen bei der Schwangerschaft bis hin zu einem instabilen sozialen Umfeld. Die Deutsche Depressionshilfe listet außerdem explizit den Erwartungsdruck als Risikofaktor auf, der durch die gesellschaftliche Verklärung der Mutterrolle erzeugt wird. Schließlich gelten auch die eigenen frühkindlichen Erfahrungen und Störungen in der Mutter-Kind-Beziehung als begünstigende Faktoren.

Zudem ergab eine Studie aus dem Jahr 2023, dass Frauen mit ADHS ein 24 Prozent höheres Risiko haben, an postpartaler Depression zu erkranken. Doch nicht nur Frauen, auch Männer können von postpartaler Depression betroffen sein. Diese tritt bei Vätern später, meist ab dem dritten Monat nach der Geburt des Kindes, auf. Ein erhöhtes Risiko besteht bei jenen Vätern, deren Kindsmutter zuvor ebenfalls an postpartaler Depression erkrankt war.

Hilfe ist möglich – wenn sie angenommen wird

Was Gefahr läuft, als individuelles Versagen wahrgenommen zu werden, vielleicht sogar als Ausweis dafür, eine schlechte Mutter oder ein schlechter Vater zu sein, ist für die werdenden Eltern in der Regel eine fürchterliche Situation, die mit einem hohen Leidensdruck verbunden ist. Aber auch bei den Neugeborenen kann die Situation nachhaltigen Schaden anrichten.

Dabei muss das nicht so sein. Die postpartale Depression gilt als gut behandelbar. Die Deutsche Depressionshilfe nennt Schuld- und Schamgefühle als Hauptursachen, weshalb sich Betroffene zu selten oder erst spät professionelle Hilfe holen. Umso wichtiger sind daher Aufklärung und konkrete Unterstützungsangebote.

Denn selbst Untersuchungen aus dem Tierreich kommen zu dem Schluss, dass Säugetiere, insbesondere Primaten, nicht unbedingt einen angeborenen Elterninstinkt haben, sondern vieles am Elternsein ein Lernprozess ist, der professionell begleitet werden kann. Für Menscheneltern gibt es bei Schwierigkeiten mit postpartaler Depression vielfältige Beratungsangebote und Anlaufstellen. In Hannover ist vergangenes Jahr bei „Notruf Mirjam“ eine zweiwöchig stattfindende Online-Selbsthilfegruppe für neue Mütter mit Depressionen ins Leben gerufen worden.


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