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Mangelhafte Zahlen

Landkreis (pvio). Zahlen gelten in unserer Gesellschaft als Garant von Sicherheit und Transparenz. In der Schule können sie hingegen zu Unsicherheit bei Schüler:innen und Eltern führen.

Wenn - wie am vergangen Freitag - Zeugnisse vergeben werden, teilt sich die Schüler:innenschaft in zwei Hälften auf: Die eine Seite bilden jene Schüler:innen, die mit ihrem Zeugnis gern nach Hause gehen, weil sie wegen ihrer guten Noten eine Belohnung erhalten. Die andere sind die verängstigten Schüler:innen, diejenigen, die wegen ihrer schlechten Noten Ärger erwartet. Doch während die Eltern verschieden reagieren, sind sie sich im Bezug auf die Noten ähnlich: Durch bloße Notenkenntnis erfahren sie nicht, „welche Kompetenzen ein Kind erworben hat und welche nicht“, wie der Kreisvorsitzende der GEW Rotenburg Wümme, Frank-Michael Embers, erklärt.
Denn Noten setzten sich einerseits komplex zusammen, verdecken aber andrerseits als bloße Ziffern, wie sie zustande gekommen sind.
Von einer 3 in Englisch beispielsweise erfahren Eltern nicht, ob ihr Kind „entweder stets eine 3 bekommen hat, Gedichtanalysen also ebenso befriedigend beherrscht wie die Regeln der Kommasetzung, oder ob dieser Schüler mit der 1 im Diktat die 5 in der freien Erörterung ausgeglichen hat“, wie der Didaktikexperte Prof. Dr. Marc Partetzke von der Universität Hildesheim erklärt.
Aber auch Schüler:innen werden von Noten manchmal ratlos zurückgelassen. So erzählt Jennifer (25), die heute die Berufsschule der Kaufmännischen Lehranstalten in Bremerhaven besucht, dass sie in der Grundschule nicht verstanden habe, was ihr die Zahlen sagen sollten. „Ich wusste nur, wenn ich eine Ziffer höher als eine Drei in einem Test oder Diktat hatte, waren nicht nur die Lehrer:innen sondern auch meine Eltern von mir enttäuscht.“
 
Keine gute Motivation
 
Aber Enttäuschung und der Druck, sie wettmachen zu wollen, seien keine gute Lernmotivation: „Wer immer nur zu hören bekommt, was er nicht kann, wird sich eher zurückziehen, als leistungsorientiert und neugierig zu sein“, so Embers. Leider arbeiteten Sorgeberechtigte, aber mitunter auch Lehrkräfte „mit dem Aufbau von Leistungsdruck.“ Aber auch der Wunsch, gute Noten zu erreichen, bliebe lediglich eine externe Motivation, die sich auf das Lernen nicht so positiv auswirke, wie „der eigene Wille und die Bereitschaft aus sich selbst heraus“, wie Partetzke erklärt.
 
Kein Fair Play
 
Das Notensystem hat aber noch ein weiteres Problem: Es ist nicht fair. Dazu müsste wirkliche Chancengleichheit bestehen, so Partetzke. Die sei aber selten erfüllt.
Zum einen deshalb, weil die Qualität einer bestimmten Unterrichtsplanung seitens einer Lehrkraft nicht nicht immer den anvisierten Unterrichtszielen entspricht. Zum anderen haben Schüler:innen faktisch unterschiedliche familiäre Hintergründe. So wird der einen Schülerin von den Eltern beim Lernen geholfen, die andere muss aber ohne Hilfe klarkommen. Entsprechend ist die eine Note - um eine Radsportmetapher zu bemühen - mit Elternhilfe „gedopt“. Sie erscheint aber als eine - von den familiären Begebenheiten unabhängige - Leistungsbewertung der Schülerin. Kein Fair Play also.
Das findet auch Jonte (11) unfair. Er geht in die sechste Klasse des Gymnasiums in Zeven: Weil seine Eltern ihm z. B. während der Zeit des Homeschoolings halfen, habe er durchweg gute Noten im Zeugnis. „Aber viele meiner Mitschüler und Mitschülerinnen hatten es da nicht so gut, weil die Eltern nicht so viel unterstützen konnten. Und so ist es ja auch, wenn wir normal zur Schule gehen dürfen. Manche Eltern helfen ihren Kindern zu Hause, andere nicht.“
 
Blick auf Lernentwicklung
 
Den meisten Pädagoginnen von heute sind die genannten Defizite des Notensystems durchaus bekannt und sie versuchen sie durch Transparenz und konkrete Rücksprache mit den Schüler:innen zu ihren Noten auszugleichen. Das zu tun empfiehlt auch Embers.
Aber den Problemen wird nicht nur durch ein offenes Verhältnis zwischen Lehrkraft und Schüler:in begegnet, sondern auch mit einer Kompetenzen reflektierenden Gestaltung des Unterrichts. So z. B. an der BBS Bremervörde. „Wir unterrichten nach dem Prinzip der Handlungsorientierung. Das bedeutet, dass die Schüler:innen eine Lernsituation bekommen. Darin ist ein lebens- oder berufspraktisches Problem enthalten.“ Im Zusammenhang mit der Lernsituation bekommen die Schüler:innen auch eine Handreichung, aus der hervorgeht, welche Kompetenzen am Ende vorhanden sein sollten, um die entsprechende fachliche oder berufliche Qualifikation zu erfüllen. „Am Ende des Lernprozesses ermitteln die Schüler:innen im Rahmen einer Reflexion, welche Kompetenzen sie schon haben, ob es andere Kompetenzen gibt, die sie während des Lernprozesses erworben haben oder wo sie noch nacharbeiten möchten/sollten“, wie die Schulleiterin Bjela Wittassek erklärt. Das Konzept ergänzt das Notensystem, verzichtet nicht darauf. „Ganz ohne Noten kommen wir natürlich noch nicht aus, weil viele Zulassungssysteme, wie z. B. Studienplatzvergabe an quantitative Werte geknüpft sind.“
Noch weitergehend wird den Problemen des Notensystems an der IGS Osterholz begegnet. Hier - wie an Gesamtschulen insgesamt - wird auf eine Notenvergabe bis zur 9. Klasse verzichtet. Um von Schüler:innen den abstrakten Leistungsdruck zu nehmen. Statt der Ziffern erhalten sie bis zur 8. Klasse Lernentwicklungsberichte, wie der Didaktische Leiter André Schlenker mitteilt. Damit bekämen Eltern wie Schüler:innen einen genauen Einblick in Stärken und Defizite. Das bestätigt auch Jennifer, ehemalige Schülerin der IGS. „Anhand der Berichte habe ich dann auch verstanden, was ich besser machen konnte oder wo ich auf jeden Fall noch üben musste.“ Die Berichte werden auch nach der 8. Klasse beibehalten. Einen Entwicklungsbericht bekommt auch die Grundschülerin Maja (7). Zum vorletzten Mal. Denn ab dem Sommer wird sie die dritte Klasse besuchen und für ihre Leistungen Noten bekommen. Sie freue sich aber darauf, weil sie dann genau sehen könne „wo man besser werden muss und was man gut kann.“ Ihr haben ihre Lehrer:innen das Notensystem also bislang ganz gut verkauft.
 
Lesen Sie hier das Interview mit Prof. Dr. Marc Partetzke


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