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Patrick Viol

Noten sagen nichts über Entwicklungen

Für die Titelgeschichte "Mangelhafte Zahlen" hat Patrick Viol mit dem Didaktikexperten Prof. Dr. Marc Partetzke über die Mängel des Notensystems gesprochen.
Professor Marc Partetzke. Foto: Daniel Kunzfeld

Professor Marc Partetzke. Foto: Daniel Kunzfeld

Herr Partetzke, ist das Notensystem fair?
 
Diese Frage ist nicht einfach mit „ja“ oder „nein“ zu beantworten, weil sich die dahinter liegende, hochphilosophische Frage – nämlich die, was eigentlich gerecht ist – nicht letztgültig beantworten lässt. Immerhin existieren ganz unterschiedliche Gerechtigkeitstheorien.
Nehmen wir aber einmal an, es ginge um Leistungsgerechtigkeit. Dann könnten wir – zunächst – sagen, Noten seien gerecht, weil Schüler:innen mit Noten dann das bekämen, was ihnen aufgrund der von ihnen in einer bestimmten Zeit erbrachten Leistungen, also etwa innerhalb eines Schul- oder Halbjahres, zusteht, es also nicht darauf ankommt, ob sie groß oder klein sind, eine Brille tragen oder nicht, welcher Familie sie entstammen usw. Dieses Prinzip („Jeder bekommt das, was er verdient.“) ließe sich dann übrigens auch auf den späteren Beruf, das Gehalt, die Position, die man in der Gesellschaft einnimmt, usw. übertragen, macht aber zugleich deutlich, dass es bestimmte Menschen gibt, die besonderen Schutz genießen müssen – nämlich all‘ diejenigen, die (auch zeitlich befristet) noch nicht oder nicht mehr (so viel) leisten können, also Säuglinge, Kleinkinder, Kranke, Hochbetagte usw.
Damit dieses Leistungsprinzip aber wirklich Anwendung finden kann, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein: Streng genommen, darf dann nur dieses Prinzip gelten und kein anderes (Bundespräsidentin darf man z.B. erst dann werden, wenn man mind. 40 Jahre alt ist), erbrachte Leistungen müssen wirklich messbar, miteinander vergleichbar und bewertbar sein. Bei gemeinsam erbrachten Leistungen (Stichwort: Arbeitsteilung) muss eindeutig erkennbar sein, wer welche Leistung erbracht hat, es muss Chancengleichheit existieren usw. Diese kurze Auflistung deutet es schon an: Viele dieser Voraussetzungen sind längst nicht erfüllt und deshalb können in diesem Lichte auch Noten gewissermaßen zwangsläufig nicht gerecht sein.
 
Sind Noten ein objektiver Spiegel der wirklichen Fähigkeiten von Schüler:innen?
 
„Objektiv“ und „wirklich“ sind große Begriffe. Lassen Sie mich mit einem Beispiel antworten: Nehmen wir einmal an, Schülerin A hat im Fach Politik im ersten Halbjahr die Noten 5, 4, 3, 2, 1 erhalten, ihre Mitschülerin B stattdessen die Noten 1, 2, 3, 4, 5. Auf den Halbjahreszeugnissen beider stünde im Fach Politik dann die Note 3, obwohl sich Schülerin A eindeutig verbessert, ihre Mitschülerin B aber eindeutig verschlechtert hat (nehmen wir einmal an, sie selbst hätte es zu verantworten). Erworbene oder nicht erworbene Kompetenzen werden also zumindest durch Zeugnisnoten nur unzureichend abgebildet. Diese sagen weder etwas über individuelle Entwicklungen innerhalb eines Schuljahrs noch etwas über spezielle Fertigkeiten aus.
Steht bei Schüler C im Fach Deutsch eine 3 auf dem Zeugnis, dann weiß man als Außenstehender also nicht, ob dieser Schüler entweder stets eine 3 bekommen hat, Gedichtanalysen also ebenso befriedigend beherrscht wie die Regeln der Kommasetzung oder ob dieser Schüler mit der 1 im Diktat die 5 in der freien Erörterung ausgeglichen hat. Übrigens: Mathematisch ist es schlicht unzulässig, so wie ich es eben selbst getan habe, aus Einzelnoten einen Notendurchschnitt zu errechnen, denn die Zensurenskala ist eine s.g. Ordinalskala, mit der zwar eine bestimmte Rangfolge ausgedrückt wird (1 ist besser als 2 usw.), nicht aber der Abstand zwischen den einzelnen Zahlen, weshalb sich faktisch kein Durchschnittswert errechnen lässt. Und noch etwas: Im besten Falle wird mit Leistungsmessungen (Leistungskontrollen, Klassenarbeiten usw.) wirklich gemessen, was auch gemessen werden sollte. Nur: Ganz bestimmt lässt sich einerseits nicht jede Kompetenz eines Menschen wirklich messen und andererseits würde dies, selbst dann, wenn es theoretisch möglich wäre, schon allein aus Ressourcengründen nicht getan. Ein umfassendes Bild der schier unendlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Schüler:innen lässt sich mit Noten also ganz sicher nicht zeichnen.
 
Ist das Notensystem für Schüler:innen transparent, insofern sie an ihnen sehen können, wo ihre Defizite liegen?
 
Zunächst einmal sollen Schüler:innen anhand von Noten ja nicht nur erkennen können, wo ihre Schwächen liegen, sondern auch ihre Stärken. Und es wäre sicherlich überzogen anzunehmen, es stünde unter den meisten Schüler:innenarbeiten jeweils nur eine bestimmte Note und sonst nichts. Will sagen: Entscheidend ist eine möglichst informationsorientierte und – z.B. anhand eines transparenten Erwartungshorizontes – begründete Rückmeldung von Lehrer:innen: Was ist, aus welchen Gründen, gut gelungen, was weniger gut, wo gibt es Nachholbedarf usw. Dann können Noten durchaus einen Orientierungswert haben. Übrigens: Noten sollten nicht allein als Hinweise für Schüler:innen gelesen werden. Denn: Sie zeigen unter Umständen ja auch an, dass eine bestimmte Unterrichtsplanung seitens der Lehrkraft sich als nicht sonderlich tragfähig erwiesen hat, weil anvisierte Unterrichtsziele – Wissens- und Kompetenzzuwachs bei den Schüler:innen – nicht oder zumindest weniger gut erreicht werden konnten, als dies beabsichtigt gewesen ist. Letztlich bewegen wir uns hier auch im Bereich der s.g. „Kausalattribuierung“, also der Frage danach, welche Ursachen ein Mensch für ein bestimmtes Verhalten auszumachen meint: Habe ich eine 4 bekommen, weil ich nicht genügend gelernt habe (liegt es an mir)? Hatte ich im Moment der Klausur einen blackout (liegt es an äußeren Einflüssen)? War der Unterricht langweilig und sehe ich die Gründe für die schlechte Note insofern eher bei meinem Lehrer (liegt es an einer anderen Person)?
 
Motiviert das Notensystem den Lernwillen von Schüler:innen? Oder ist es ein System, das mit Druck und Angst operiert?
 
Das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Fest steht: Noten und Zeugnisse sollen schon immer ganz unterschiedliche Funktionen übernehmen – übrigens auch sich z.T. einander widersprechende. Sie sollen Schüler:innen disziplinieren und motivieren und zukünftige Leistungen prognostizieren (eine 5 in Mathe am Ende der 9. Klasse heißt nicht nur, dass der Stoff der 9. Klasse nicht beherrscht wird, sondern auch, dass das aller Wahrscheinlichkeit nach auch mit dem Stoff der Klasse 10 der Fall sein wird). Sie sollen Schüler:innen, deren Eltern und außer-familiäre Dritte, also potentielle Arbeitgeber:innen, Ausbildungsbetriebe, Universitäten, Bildungspolitiker:innen und Schulverwaltungen usw., informieren, Schulsysteme und -arten legitimieren u.v.a mehr. Kurz gesagt: Sie sollen eine Informationsverdichtungsfunktion übernehmen – ob ihnen das wirklich gelingt, darf allerdings begründet bezweifelt werden.
Manche Schüler:innen mögen Noten nun beflügeln, bei anderen mögen sie Druck auslösen und Angst erzeugen, stets handelt es sich bei ihnen aber um eine von außen erzeugte, s.g. extrinsische Motivation oder eben um extern erzeugten Druck. Vor der Existenz von Noten und noch heute außerhalb von Schule, beispielsweise im Verein oder im Freundeskreis, übernehmen diese Funktionen Lob und Tadel. Empirische Studien haben aber gezeigt, dass der eigene Wille und die Bereitschaft aus sich selbst heraus, die s.g. intrinsische Motivation, sich viel positiver auf die Kognition, also z.B. das Lernen, auswirken als extrinsische (im Übrigen auch auf Emotionen wie bspw. Prüfungsangst)
 
Warum wird am Notensystem festgehalten, während in der Wirtschaft Unternehmen sich immer weniger für Schulnoten interessieren?
 
Das hat sicher viele verschiedene Gründe. Einer ist meines Erachtens darin zu suchen, dass Noten und Zeugnisse einen wesentlichen Bestandteil des weitgehend staatlich organisierten Bildungssystems darstellen, das aufgrund seiner Herrschaftsnähe, zumindest tendenziell, eher konservative Züge trägt oder anders gesagt: das große Beharrungstendenzen zeigt („Das haben wir schon immer so gemacht.“). Ein anderer Grund liegt sicher darin, dass das Bemühen, Schüler:innenleistungen möglichst genau zu diagnostizieren, die erhobenen Daten möglichst objektiv zu bewerten und auf dieser Grundlage dann wiederum möglichst passgenaue pädagogische Angebote zu entwickeln, keineswegs als ein von vornherein schlechtes Bemühen abzuqualifizieren ist. Immerhin steht dahinter der Versuch zu differenzieren und möglichst individuell zu fördern (ob das gelingt, steht auf einem anderen Blatt). Und: So wichtig Kritik auch immer sein mag – nur zu kritisieren, reicht nicht. Meines Erachtens sollte man dann auch Alternativen anbieten können und um diese ist es nicht sonderlich gut bestellt. Jedenfalls sind mit alternativen Formen der Leistungsfeststellung und -bewertung (Portfolios, Lerntagebücher usw.) nicht alle Probleme gelöst – schon gar nicht das der erwähnten, bislang lediglich unzureichend erfüllten Voraussetzungen der Anwendung des Leistungsprinzips als solchem.
 
Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.


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