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Tom Gath

Heinrich Vogeler Retrospektive: Erinnerung an die Möglichkeiten einer schönen Welt

Worpswede. Die nächsten fünf Jahre stehen die vier Worpsweder Museen unter dem Motto „Zeitenwende. Kunst im Aufbruch in einer Welt im Umbruch“. Den Auftakt bildet eine umfangreiche Jubiläumsaustellung zum 150. Geburtstag Heinrich Vogelers ab dem 27. März.

Der Begriff der „Zeitenwende“ erlangte erst vor kurzem traurige Berühmtheit. Bundeskanzler Scholz kündigte damit die 100 Milliarden Euro teure Militarisierung Deutschlands an. Auf den ersten Blick ein Widerspruch zu den Ideen der visionären Worpsweder Künstler:innen Bernhard Hoetgers, Paula Modersohn-Becker oder Heinrich Vogeler. Diese zufällige Überschneidung zum Titel des großen Worpsweder Austellungs-, Kunst- und Forschungsprojekts macht aber auch deutlich, dass eine Reflexion der gesellschaftskritischen Aufgabe von Kunst mehr als dringlich ist. Das Worpsweder Projekt gilt dieser Versenkung in die kritische Kraft der Kunst.
Zum Start des Projektes widmen vier Worpsweder Museen - Barkenhoff, Große Kunstschau, Haus im Schluh und die Kunsthalle - ab dem 27. März dem vielschichtigen wie vielseitigen Künstler Heinrich Vogeler eine große Retrospektive mit dem Titel „Heinrich Vogeler. Der Neue Mensch“. Hierzu wurden zahlreiche Kunstwerke Vogelers - von den Radierungen im Jugendstil bis zu den kommunistischen Komplexbildern - zusammengestellt und in künstlerischen Dialog mit Arbeiten gegenwärtiger Künstler:innen gebracht. Denn „was Vogeler umgetrieben hat, ist auch das, was uns heute bewegt: Frieden und Gerechtigkeit“, betont die Direktorin des Vogeler-Museums Barkenhoff sowie der Großen Kunstschau, Beate C. Arnold. Als exemplarische Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts könne Vogeler auch heute noch erhellen, in welchem Verhältnis Kunst und Kultur zu politischen Interventionen stehen. Zudem werfe Vogeler kritische Fragen an die Gesellschaft und ihre Verhältnisse auf, die nach wie vor aktuell seien.
Das Ziel der Ausstellung sei daher, eine Brücke zwischen dem Künstler vor 100 Jahren und der Gegenwart zu schlagen. Um dieses Ziel zu erreichen, haben die Organisator:innen keine Mühen (und vermutlich auch keine Kosten) gescheut und eine beeindruckende Materialsammlung zusammengestellt, die gut durchdacht angeordnet ist und spannende Zugänge zu den Utopien im Werk des Universalkünstlers ermöglicht.
 
Der Träumer
 
Abgerundet wird das Vogeler-Jubiläumsjahr durch einen weiteren Zufall: Die Veröffentlichung des von der Bremer Firma Kinescope produzierten Films „Heinrich Vogeler - Aus dem Leben eines Träumers“ hat sich aufgrund der Corona Pandemie verzögert. Anders als geplant kommt der Film erst am 12. Mai in die Kinos. Er bietet einen weiteren Zugang zum Wirken und der Person Vogelers, wie Matthias Jäger, Geschäftsführer des Worpsweder Museumsverbundes, mit Freude betont. Produzent Matthias Greving und Hauptdarsteller Florian Lukas ließen es sich daher auch nicht nehmen, bei der Vorbesichtigung am 24. März im Barkenhoff vorbei zu schauen. Lukas zeigt sich beeindruckt vom historischen Vorbild seiner Rolle: „Vogeler war ein Träumer, ein Perfektionist, ein Künstler im umfassenden Sinne.“ Er habe starke Erfahrung zugelassen „und hat alles, was kam, angenommen. In Krisen hat er es geschafft nicht zu resignieren, sondern sich selber sowie seine Umgebung zu transformieren und Neues zu gestalten.“ Eine Haltung, die Lukas persönlich inspiriere und deren Aktualität man nicht unterschätzen solle. Das Filmteam habe es laut Produzent Greving geschafft, das komplette Leben Vogelers zu erfassen. Gelungen sei das durch eine experimentelle Mischung aus visualisierter Fiktion und aufwendig recherchierter Dokumentation.
 
Vogelers Begriff von Schönheit
 
Die von Florian Lukas gelobte Erfahrungs- und Transformationsfähigkeit Vogelers wird vor allem in der Ausstellungssektion „Werden“ deutlich. Im Barkenhoff, der für drei Jahrzehnte die Lebens- und Arbeitsstätte des Malers war, werden zahlreiche Schlüsselwerke von Vogeler präsentiert. Dabei sind die Stile und Techniken genauso vielfältig wie die verhandelten Themen und Motive. Die gemeinsame Klammer besteht in seinem konsequent verfolgten Ziel einer schöneren Welt. Schönheit war für ihn aber nicht einfach ein ästhetisches Urteil. Vogelers Begriff von Schönheit ist ein emphatischer und untrennbar mit den Idealen von Frieden und Freiheit verbunden. Seine Kunst ist dem guten und freien Leben für Alle verpflichtet.
Der Ausstellung gelingt es, darzustellen, dass diese Verpflichtung von Beginn an in Vogelers Schaffen liegt und sich nicht erst durch seine explizite Politisierung durch die grausame Erfahrung des Ersten Weltkrieges entwickelte. Sie zeigt aber auch, wie diese Erfahrung den bürgerlichen Freigeist Vogeler zum überzeugten Kommunisten werden ließ, der intensiven Kontakt zu den Revolutionär:innen der Bremer Räterepublik suchte und seine Kunst in den Dienst des Parteikommunismus stellte, in der Hoffnung, so die schöne Welt für alle real werden zu lassen - samt der Enttäuschung, die sich über diesen Weg und seine Umsiedelung in die Sowjetunion einstellte. In dieser Zeit entstanden u. a. Vogelers berühmte Komplexbilder, von denen die wichtigsten im Barkenhoff zu sehen sind.
 
Aufbruch einer neuen Zeit
 
In der Großen Kunstschau greifen unter dem Motto „Anbruch einer neuen Zeit?“ zeitgenössische Künstler:innen die großen Fragen Vogelers auf und bringen sie in eine ästhetische Konstellation mit gesellschaftlichen Problemen der Gegenwart. Hierfür wurde der 1918 formulierte Friedensappell Vogelers an Kaiser Wilhelm II. aufgegriffen und in vier Teile seziert: „Setze an die Stelle des Wortes die Tat! Demut an die Stelle der Siegereitelkeit - Wahrheit anstatt Lüge! Aufbau anstatt Zerstörung“. Tat, Demut, Wahrheit und Aufbau bilden die Leitbegriffe für die 19 zeitgenössischen Positionen, die Vogelers Engagement in die Gegenwart übersetzen.
Demut vor dem Leben fordert etwa Jannine Kochs Abbildung „I can’t breathe“ von Eric Garner, der 2017 - ähnlich wie George Floyd 2020 - von Polizistinnen getötet wurde.
„Aufbau statt Zerstörung“ ist angesichts der zunehmenden Klima- und Umweltkatastrophen ein wichtiges Motiv gesellschaftlicher Transformation, das Oliver Ressler aufgreift. Seine Arbeit „Reclaiming Abundance“ zeigt in einer Bilderserie, wie sich die Infrastruktur in einem postfossilen Zeitalter verändert haben könnte, wenn die Prinzipien demokratischer Mitbestimmung und globaler Klimagerechtigkeit gelten würden.
Nach demokratischen Prinzipien und unabhängig von Staat und Kapital wollten auch Vogeler und seine Mitstreiter:innen auf dem Barkenhoff leben. Wie so viele ihrer sozialrevolutionären Zeitgenossinnen sind sie daran aber letztlich gescheitert. Die Möglichkeit des Scheiterns wie die Herausforderungen einer emanzipatorischen Neukonstruktion des Zusammenlebens als „Utopie im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft“ versucht das Wiener Innenarchitekturbüro „mischer’traxler“ mit der Arbeit „LeveL - The fragile balance of utopia“ darzustellen. 62 Leuchten an ausbalancierten Stäben symbolisieren das empfindliche Gleichgewicht der Utopie, das in einer partikularen Umsetzung immensen Störungen ausgesetzt wird. Setzen leichte Schwingungen die Stäbe in Bewegung, verdunkeln sich einzelne Elemente und können schließlich sogar ganz erlöschen.
Doch die Ausstellung verwirft damit nicht die Idee einer emanzipatorischen Neuordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens als naiv. Im Gegenteil: Sie versucht sie als Möglichkeit der Krisenbewältigung in Erinnerung zu rufen. Und gerade weil die Gegenwart angesichts des Krieges in der Ukraine eher dunkel als utopisch anmutet, kommt die Ausstellung „Heinrich Vogeler. Der Neue Mensch“ zur richtigen Zeit. Indem sie umfänglich dazu auffordert, sich mit Vogelers Visionen einer von Unterdrückung und Ausbeutung befreiten Welt zu beschäftigen, wirft sie die richtigen Fragen auf. Sie zu beantworten, zeigt gesellschaftliche Möglichkeiten auf, deren Verwirklichung Kriege der Vergangenheit angehören lässt.


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