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Janine Girth

Vom Helden zum Gehassten Polizeidezernatsleiter sprach über Gewalt gegen Beamte und Helfer

Wilfried Grieme ist seit 2015 Dezernatsleiter Einsatz und Verkehr in der Polizeidirektion Oldenburg.  Foto: ek

Wilfried Grieme ist seit 2015 Dezernatsleiter Einsatz und Verkehr in der Polizeidirektion Oldenburg. Foto: ek

Osterholz-Scharmbeck. Im Gemeindesaal der St.-Willehadi-Kirchengemeinde wartete der Referent Dezernatsleiter Einsatz und Verkehr der Polizeidirektion Oldenburg Wilfried Grieme auf den Start seines Vortrags „Gewalt gegen Polizeibeamte und Rettungskräfte“, als zeitgleich draußen unter der vollen Bewunderung eines kleinen Mädchens (mit Migrationshintergrund) ein Rettungswagen im Wendehammer hielt. Die beiden jungen Rettungsdienstler holten sich zwar nur ihr Abendessen vom Döner-Laden, aber das kleine Mädchen war ganz aufgeregt, diesem Rettungswagen und seiner Besatzung so nah zu sein. Was passiert zwischen dem vierten Lebensjahr und dem Lebensjahr, wenn die Gewalt gegen genau diese Kindheitshelden einsetzt?
Grieme blickte auf dieses Phänomen, das bereits 1972 von Autor und Reporter Horst Siebecke beobachtet wurde: „Kein anderer Berufsstand muss sich derart beschimpfen, beleidigen und angreifen lassen.“ Grieme stützte seinen Vortrag auf bereits neun Jahre alte Ergebnisse der KFN-Studie (Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen), der ersten und einzigen belastbaren großen Studie. „Das Thema ist ein Sensor für die Gesellschaft: So wie sich die Bevölkerung verhält, das passiert gerade mit dem Staat“, sagte Grieme. Dabei sei es eine perverse Entwicklung zu beobachten: „Rettungs- oder Feuerwehrkräfte zu attackieren, lässt so gar keine Motivation erkennen.“ Der Widerstand gegen Polizeibeamte sei ein eigener Tatbestand geworden und inkludiere Schlagen und Schubsen als Angriff auf Polizeibeamte. „Verurteilte erwartet keine Geldstrafe, sondern als Mindeststrafe eine dreimonatige Haft. Das ist schon eine gewisse Dimension, ein gutes, starkes Signal“, fand Grieme. 550 Übergriffe auf Polizeibeamten seien 2017 in der Polizeidirektion Oldenburg gemeldet worden. „Das ist eine hohe Hellziffer. Die Dunkelziffer wird bedeutend höher sein.“ Widerstand gegen die Beamten sei massiv zu bemerken, „besonders im öffentlichen Straßenverkehr und im Privathaus. Das ist nachvollziehbar, wenn den Betroffenen spätestens bei der Festnahme oder der Identifikationsfeststellung klar wird, dass ihr Handeln nun unangenehme Folgen haben wird.“ Im Ergebnis waren das 2017 17,2 leicht verletzte Beamte und ein schwerverletzter. „Laut KFN-Studie ist der Durchschnittsstreifenbeamter unter 50 Jahre alt, groß und kräftig. Das Bild stimmt nicht“, sagte Grieme. „40 Prozent der Beamten im Streifendienst sind Frauen.“ Der Streifendienst sei die „Feuerwehr“ der Polizei, „die Ermittler kommen erst, wenn der Dampf schon raus ist.“ Die Zahlen gaben nüchtern wieder, dass 89 Prozent der Gewaltanwender männlich seien, 60 Prozent unter Drogen- und Alkoholeinfluss stünden und lediglich 24,9 Prozent nicht deutsch seien.
„Das respektlose und beleidigende Verhalten gegenüber der ausführenden Hand des Staates ist angestiegen.“
84 in Oldenburg gemeldete Beleidigungen in 2017 seien 13 mehr als im Vorjahr. Dazu gehöre der zunächst mit Gesten und Schimpfwörtern belegte Kontaktpolizist, der einen Radfahrer aufforderte, das Rad durch die Fußgängerzone zu schieben, der bei wiederholter Aufforderung geschlagen wurde. Dazu gehöre das Schlagen von Beamten mit einem aus dem Bund gezogenen Gürtel, das Schlagen ins Gesicht. Seit 2011 würden die Fallzahlen der Angriffe auf Einsatzkräfte der Rettungsdienste und der Feuerwehren gesammelt, um sie auszuwerten und einzuordnen. „Von 100 Fällen in 2011 hat sich die Zahl 2017 verdoppelt. Die Ursachen sind schwierig, denn keine der wissenschaftlichen Studien nähert sich aus der Täterperspektive, dabei sind Motive wichtig.“ Grieme vermutete eine unglückliche Reaktion auf die Aufforderungen der Beamten und Helfer. „Dabei sind die Polizisten für ihre Berufsausübung trainiert und ausgestattet, anders als die Feuerwehrleute und Rettungsdienste. Wie verkraften die das, die nicht in Selbstverteidigung ausgebildet und mit Schlagstöcken ausgestattet sind?“, fragte sich Grieme. Die Polizei griffe in Privat- und Intimsphäre ein. „Dem darf man nicht mit Gewalt begegnen“, unterstrich der 55-Jährige. „Es gibt andere überprüfbare Maßnahmen, die polizeiliches Handeln sanktionieren.“
Er räumte ein, dass polizeiliches Handeln durchaus Taten fördern könne: „Ich möchte nicht verhehlen, dass Polizisten durchaus provozieren können.“ Er näherte sich anschließend vom medinischen Ansatz: „Könnte Testosteron verantwortlich gemacht werden für Gewalt, wenn 80 Prozent der Täter männlich sind und junge Männer in Horden besonders gefährlich sind?“ Die Uniklinik Aachen habe diesen Ansatz widerlegt, „obwohl es ein Gen gibt, das den Träger gewaltbereiter sein lässt“. Es sei ein Cocktail aus Genetik, Umwelteinflüssen und eigener Gewalterfahrung bis hin zum Trauma, der zum meist männlichen aggressiven Verhalten führen könne. „Dazu kommt ein etwaiges Erfolgserlebnis durch Gewalt.“ Was die Polizei tatsächlich erlebe, sei das Verhalten der Macho-Kulturen: „Die Chefs der Clans lassen sich nichts sagen. Und wir haben damit ein Problem, wenn die nächste Generation dann so aufwächst.“ Ein etwaiger Migrationshintergrund mache das nicht leichter: „Ich will die Migration nicht schlechtmachen, aber wir müssen uns darauf einstellen.“ Die Zunahme von Gewalt sei ohnehin international, wenn Regeln für andere gälten „‘aber nicht für mich‘. Die Allgemeingesellschaft interessiert nicht bei Grundaggressivität.“ Ein weiterer wichtiger Punkt sei das Elternhaus. „Die freie Entwicklung, die wachsende Zahl der Singlehaushalte, ein Heer von Alleinerziehenden – in vielen Elternhäusern und auch in den Schulen fehlen männliche Rollenvorbilder. Und unsere Erziehung heutzutage ist ja völlig gaga“, sagte Grieme deutlich: „Die Kinder dürfen heute keine Niederlagen mehr erleiden. Notfalls wird die bessere Schulnote mit dem Anwalt eingeklagt.“ Durch Digitalisierung isolierten sich die Menschen immer mehr: „Regeln und Verhaltensweisen verschwinden einfach.“ Diese Beobachtungen, die bestimmt nicht der political correctness entsprechen, seien wissenschaftlich nicht belastbar, „aber meine 36-jährige Dienstzeit hat meinen Blick dafür geschärft“. Eine einfache Gegenmaßnahme wäre eine geschulte Kommunikation in der Aus- und Fortbildung der Beamten: „Das ist unsere stärkste Waffe, um Konflikten zu begegnen. Die richtigen Worte zu finden ist so wichtig für Polizei, Rettungsdienste und Feuerwehr.“ Von der Staatsanwaltschaft wäre das Durchsetzen eines beschleunigten Verfahrens wünschenswert, „dass ein Täter sofort in Haft genommen werden könnte und ein Urteil innerhalb einer Woche zu erwarten wäre. Das ist natürlich schwer umzusetzen, denn es braucht Arbeitskräfte bei den heute durchgängig unterbesetzten Gerichten und Staatsanwaltschaften.
In der Zukunft werde die Polizei vermehrt bewaffnet auftreten, was dem terroristischen Hintergrund geschuldet sei. „Wir wollen eine bürgerfreundliche Polizei bleiben, die die Nöte und Sorgen der Bürger ernst nimmt, trotz eines robusteren Wahrnehmens.“ Mit den Worten, er habe noch tausend Sachen zu sagen, beendete Grieme seinen Vortrag.


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