Benjamin Moldenhauer

Narziss‘ Spiegel

Benjamin Moldenhauer hat Lars Henrik Gass‘ Buch „Objektverlust“ gelesen, das scharf und trauernd den Weltverlust im zeitgenössischen Film darlegt.

Die Zeiten, in denen Filme als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse gesehen wurden, sind vorüber. Soziologie und Psychoanalyse und damit ein genuin gesellschaftskritischer Blick waren bis Ende der Neunzigerjahre im Schreiben über Filme präsent – und auch in den Filmen selbst. Das Kino war ein Ort, an dem nicht nur bewegte Bilder gezeigt wurden, sondern ein öffentlicher Raum, in dem Menschen aus unterschiedlichen Schichten zusammenkamen, um gemeinsam nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine soziale Erfahrung zu machen.

Das ist vorbei. Lars Henrik Gass, bis 2024 fast 30 Jahre lang Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen und Autor mehrerer Bücher über die Zukunft des Kinos, bettet in dem gerade einmal hundert Seiten starken Band „Objektverlust“ diese Entwicklung – weg vom Kino, hin zu Filmen und Serien, die über Streaming-Dienste im Privaten geschaut werden – in eine allgemeine gesellschaftliche Dynamik ein. Objektverlust auf allen Ebenen: Dem Kino geht das Publikum verloren. Dem Publikum, das sich laut Gass nicht mehr aus Bürgern, sondern aus narzisstisch strukturierten Subjekten zusammensetzt, kommt die Welt abhanden. Und die Welt verschwindet aus dem Kino, durch das man sie betrachten und mit ihr in Kontakt treten konnte – über die ästhetische Erfahrung, in der man sich in ein Verhältnis zu ihr gesetzt sah, mit dem man dann umgehen musste.

Ungerichtete Erfahrung

Im besten Fall führte das Kino ins Irritierende, Offene, Erkenntnisträchtige. Die schönste Passage von Lars Henrik Gass‘ dichtem Essay findet sich gleich zu Beginn, in der autobiografischen Beschreibung der Filmerfahrung eines Schülers: „Ich erinnere mich an Lehrer, weil sie uns etwas gezeigt, nicht weil sie uns etwas beigebracht haben. Niemand verband damit Gedanken an Werte und Wissen oder auch nur Unterhaltung, auch wenn wir immer erleichtert waren, wenn’s Film statt Erziehung gab. So verließen wir die kleine Großstadt und sahen eine unbekannte Welt, in der Leute unbegreifliche, bis heute unbegriffene Dinge taten und sagten. Man darf also annehmen, dass Schule so, durch ungesteuerte Erfahrung, wenigstens ein paar Menschen hervorbrachte hie und da.“

Diese ungerichtete Erfahrung anhand von Film und Kino sieht Gass verschwinden: „Das Kino kommt mit dem bürgerlichen Subjekt zu Ende, das es hervorgebracht hatte und dessen Ausdruck war.“ An seine Stelle tritt ein narzisstisches Subjekt, dem ein Weltbezug, an dessen Anfang und Ende es nicht selbst steht, unmöglich ist. Reich an Erlebnissen und Eindrücken, aber nicht an Erfahrungen, starke Reize suchend, aber ohne Bindung, irrt dieses Subjekt durch seine weltlose Welt.

Ästhetik ohne Weltbezug

Und die Filme sind entsprechend. Das bürgerliche Subjekt fand seinen Weltzugang laut Gass etwa im neorealistischen Kino – bei Pier Paolo Pasolini oder Michelangelo Antonioni. Um den „Film in der narzisstischen Gesellschaft“ zu beschreiben, fasst Gass eine Reihe aktuell im Arthouse-Segment erfolgreicher Regisseurinnen und Regisseure zu einer Gruppe zusammen: Wes Anderson, Greta Gerwig, Mia Hansen-Løve, Giorgos Lanthimos, Ruben Östlund, Quentin Tarantino, Joachim Trier und Athina Rachel Tsangari. Sie würden sich – bei aller Unterschiedlichkeit – darin gleichen, dass ihre Filme übererklären, eine in kreativen Berufen tätige Mittelschicht adressieren, Kritik nur simulieren, mithin eine Ästhetik ohne Weltbezug erzeugen, die Meme-tauglich ist. Vor allem aber erscheinen ihre Figuren als narzisstische Subjekte.

Am Beispiel der Heldin von Joachim Triers „The Worst Person In The World“ entfaltet Gass seine Kritik des Narzissmus. Triers Film erzählt von einer Frau, die keine Bindung zu ihrer Umgebung eingehen kann und diese Umgebung doch ausschließlich auf sich selbst bezieht. In einer Szene gefriert ihre Umgebung zum Standbild, durch das die Frau – aufgewühlt von einem neuen Reiz – zum nächsten Objekt ihrer Selbstbespiegelung gleichsam hindurchrauscht (hin zum Mann, in den sie sich Hals über Kopf verliebt hat und für den sie ihren Freund verlassen wird).Gass: „Die Entwicklung einer Person, ihre Begegnung mit einer unbekannten Welt wurde ersetzt durch eine Ich-Zone, der Bezug zur Welt durch eine Abfolge von visuellen Ereignissen, die nicht mehr auf gesellschaftliche Verhältnisse verweisen, sondern auf den Geschmackshorizont und die Lebenswelt der Zielgruppe eines Films.“ Ein Resultat ist demnach Bindungslosigkeit, genauer: die Unfähigkeit, Bindungen einzugehen, die dem Subjekt etwas abverlangen würden: Veränderung des Selbst durch die Verbindung mit anderen, Sorge für andere, eine Auseinandersetzung mit der Welt, in deren Verlauf beide – der Mensch und die Welt – sich verwandeln.

Trauer über den Niedergang

Das berechtigte, weil realistische Gefühl der Unveränderbarkeit der Welt beschreibt Gass als eine der sozialen Ursachen für die Entstehung narzisstischer Subjekte, aus denen sich die Mittelklasse heute zusammensetzen würde. Die Filme, auf die Gass Bezug nimmt, sind in diesem Sinn selbst narzisstische Objekte: Ausdruck sozialer Verhältnisse. Im besten Fall können sie diese Verhältnisse „bezeichnen“, wie es an einer Stelle heißt. Sie können sie nicht in den Blick nehmen oder kritisch zur Anschauung bringen – schon weil die Figuren, die sie zeigen, und damit auch die Filme selbst, keinen Weltbezug mehr haben. Sie agieren die narzisstische Gesellschaft nur noch symptomatisch aus.

Lars Henrik Gass hat einen sehr genauen Blick für den Weltverlust des zeitgenössischen Kinos. Die Lust an der Polemik, aber auch die Wut auf und die durchscheinende Trauer über den Niedergang des Kinos als Medium zur Welterschließung lassen die Argumentation manchmal apodiktisch und in diesem Sinne nicht überzeugend wirken. „The Worst Person In The World“ etwa ließe sich etwa auch als Film beschreiben, der die Ortlosigkeit eines bindungslosen Menschen als schmerzhaft darstellt und seine Heldin als liebenswerte, aber traurige Figur zeigt. Ihre Bindungsunfähigkeit verknüpft Trier psychologisch mit einem Vater, der keine wirkliche Bindung zu seinem Kind eingegangen ist. Das Scheitern der Beziehungen, die nur so lange halten, bis jemand ein schöneres Spiegelbild bietet, wird in The Worst Person In The World nicht zwangsläufig affirmiert. Denn niemand ist in diesem Film glücklich damit, wie er ist. Und es spricht für Gass‘ Text, dass man eigene Wahrnehmungen ebenso wie die Thesen des Autors überprüfen und die Filme sehen oder erneut sehen möchte.

Immenser Verlust

Auch wenn man einzelnen Punkten – etwa einzelnen Filmanalysen oder der kompromisslosen Verdammung jeglicher Form von Identitätspolitik – nicht folgen mag, formuliert „Objektverlust“ wichtige und Augen öffnende Beobachtungen. Zugrunde liegt ihm die schwer abzustreitende Einsicht, dass die Welt – anders als zu Hochzeiten des Autorenfilms – als nicht mehr veränderbar wahrgenommen und erlebt wird. Margaret Thatchers berühmter Satz „There is no such thing as society“ war stets ein Postulat: Ihr bewegt hier nichts mehr, und wenn sich hier noch was bewegt, dann als Umverteilung von unten nach oben. Der Satz meinte aber zugleich eine radikale Durchstreichung der Welt, die man verändern könnte. Es gibt nur noch auf sich selbst zurückgeworfene Individuen, höchstens noch in identitären Stammesformationen organisiert, aber nicht in wirklichen sozialen Zusammenhängen.

Der Film und der Niedergang des Kinos bilden diese gesellschaftliche Entwicklung ästhetisch ab: in der Verhäuslichung (raus aus dem Kino, hin zu Netflix) wie auch auf den Bildschirmen, auf denen weltlose Figuren nicht mehr als Problem, sondern als naturhafte Normalität erscheinen.

Man sollte „Objektverlust“ also nicht als abschließende Untersuchung lesen – dazu ist der Essay, also als Annäherung und Versuch gekennzeichnete Text zu verdichtet. Man kann ihm aber Begriffe und Gedanken entnehmen, mit denen sich das Kino wieder als ein Medium der Welterschließung beschreiben, verstehen und erleben lässt. Das ist nicht wenig. Denn der Verlust, den sein endgültiges Verschwinden bedeuten würde, wäre immens.

 

Lars Henrik Gass: Objektverlust. Film in der narzisstischen Gesellschaft. XS-Verlag, Berlin 2025. 112 Seiten. 21 Euro.

 


UNTERNEHMEN DER REGION

E-PaperMarktplatzStellenmarktZusteller werdenLeserreiseMagazineNotdienst BremervördeNotdienst OHZReklamationTicketservicegewinnspielformular