Patrick Viol

Mehr als Vorurteil

Stefan Dietl analysiert im Interview mit Patrick Viol, wie Antisemitismus in der AfD nicht nur als ideologische Klammer dient, sondern gezielt als politisches Werkzeug eingesetzt wird – und warum ein Verbot allein nicht reicht.

Lieber Herr Dietl, Sie beschreiben Antisemitismus als „wesentliches Ideologieelement“ der AfD. Was heißt das konkret?

Antisemitische Ressentiments finden sich in allen Lagern der AfD. Sie ist eine sehr heterogene Partei, ein Sammelbecken der politischen Rechten, in dem Nationalkonservative oder christliche Fundamentalisten ebenso eine Heimat finden wie neoliberale Hardliner oder völkische Nationalisten. Umso wichtiger sind ideologische Gemeinsamkeiten, die die verschiedenen Strömungen zusammenhalten. Der antisemitische Verschwörungsglaube an eine weltbeherrschende „globalistische Elite“ ist eines dieser verbindenden Elemente.

In der AfD dient Antisemitismus als Weltdeutungs- und Erklärungsmuster. Sämtliche negativen Erscheinungsformen der kapitalistischen Moderne werden auf eine kleine Gruppe zurückgeführt – eine „transnationale Elite“, „Finanzoligarchie“ oder „Clique“, die angeblich insgeheim die Welt lenkt und Staaten sowie Völker zerstört. Dieser Glaube ist die ideologische Basis für den Kampf gegen die Moderne, dem sich die AfD verschrieben hat.

Welche unterschiedlichen Formen von Antisemitismus finden sich in der AfD?

In der AfD finden sich sämtliche Erscheinungsformen des modernen Antisemitismus. Im Buch beschreibe ich unter anderem den verschwörungsideologischen Antisemitismus und seine Verankerung in der Partei, den israelbezogenen Antisemitismus, völkisch-nationalistischen Antisemitismus ebenso wie den im marktradikalen Lager. Auch der Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus sowie christlich motivierte Judenfeindschaft und deren Bedeutung für die AfD werden thematisiert.

Wie funktionieren sie und woran erkennt man sie?

Allen Formen gemeinsam ist, dass jahrhundertealte antisemitische Bilder modernisiert und an aktuelle Verhältnisse angepasst werden. Aus den „Brunnenvergiftern“ werden etwa die angeblichen Entwickler tödlicher Krankheiten – wie während der Corona-Pandemie. Der „umherwandernde Jude“ wird zum „Globalisten“, der die Völker zersetzen soll. Aus der jüdischen Weltverschwörung wird die sogenannte „Neue Weltordnung“.

Wegen der gesellschaftlichen Ächtung offener Judenfeindschaft greifen viele auf Codes und Chiffren zurück. Israel wird zur Projektionsfläche des Nationalsozialismus, aus der „jüdischen Weltverschwörung“ werden „zionistische Weltherrschaftspläne“. Einzelne Personen wie George Soros dienen als Projektionsflächen klassischer antisemitischer Stereotype: völkerzersetzend, allmächtig, finster.

Die AfD inszeniert sich als Freundin Israels und Kämpferin gegen Antisemitismus. Wie kann man das verstehen?

Die AfD präsentiert sich als vermeintliche Verteidigerin jüdischen Lebens gegen „importierten Antisemitismus“ und „antisemitische Einwanderung“. Antisemitismus wird externalisiert, dem Anderen, dem Fremden zugeschoben – nicht zuletzt, um vom Antisemitismus im eigenen Lager abzulenken. Er wird instrumentalisiert, um gegen Migration zu agitieren. Abschiebungen und Grenzschließungen erscheinen dann als angeblich einzig wirksame Maßnahme gegen Antisemitismus. Die Solidarität endet aber, sobald es darum geht, Antisemitismus in den eigenen Reihen zu benennen.

Das ist kein rein auf die AfD beschränktes Phänomen. Auch in der Linken spricht man lieber über Antisemitismus von rechts als über den vor der eigenen Haustür. Liberale und Konservative wiederum verweisen gerne auf die „extremen Ränder“, statt über antisemitische Ressentiments in der gesellschaftlichen Mitte zu sprechen.

Ein Kapitel widmen Sie dem christlichen Antisemitismus. Welche Rolle spielt religiöse Judenfeindschaft und wie stark ist sie in der Partei vertreten?

Die Verbreitung antisemitischer Ressentiments lässt sich nicht verstehen ohne den Blick auf deren Verwurzelung in der christlichen Zivilisation. Ob Atheisten oder Gläubige – diese Prägung wirkt bis heute fort. Der christlich geprägte Antisemitismus liefert bis heute stereotype Bilder, an die aktuelle Formen anschließen.

Die AfD hat einen stark christlich-fundamentalistischen Flügel. Viele katholische Hardliner, die etwa das Zweite Vatikanische Konzil als Liberalisierung ablehnen, fanden dort eine neue Heimat. Martin Hohmann, der wegen antisemitischer Äußerungen aus der CDU ausgeschlossen wurde, erlebte in der AfD ein politisches Comeback. Auch weniger religiöse Akteure wie Björn Höcke greifen rhetorisch auf den vermeintlichen „Antagonismus“ zwischen Judentum und Christentum zurück. Gerade diese Wurzeln des Antisemitismus im Christentum werden häufig unterschätzt.

Die AfD greift die Erinnerungskultur der Shoa gezielt an – welche politische Absicht steckt hinter dem Wunsch nach einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“?

Ein zentrales Ziel der AfD ist die Rehabilitierung eines ungebrochenen deutschen Nationalstolzes. Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus, insbesondere an die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, steht dem entgegen.

Die AfD will Deutschland ideologisch „aufrüsten“. Nur befreit vom vermeintlichen „Schuldkult“ könne Deutschland – so ihre Vorstellung – seine natürliche Führungsrolle wieder einnehmen, nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und militärisch. Eine Erinnerungskultur, die Opfer benennt und Täter nicht verschweigt, gilt ihr als moralischer Ballast. Aus Sicht der AfD steht sie der Durchsetzung deutscher Interessen auf dem Weltmarkt im Weg – insbesondere durch die Erinnerung an den millionenfachen Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden.

Welche Rolle spielen linke und islamistische Spielarten des Antisemitismus für die Selbstdarstellung der AfD – und warum kann gerade die fehlende klare Haltung der politischen Mitte der AfD in die Hände spielen?

Weil islamischer Antisemitismus oft sprachlos hingenommen wird, kann sich die AfD als vermeintlich einzige konsequente Gegnerin des Islamismus inszenieren. Die Sorgen vieler Jüdinnen und Juden in Deutschland vor islamischem Antisemitismus und einem radikalisierten politischen Islam werden in der Mehrheitsgesellschaft oft ignoriert – das nutzt die AfD strategisch aus.

Auch in der Linken zeigt sich ein unzureichendes Verständnis von Antisemitismus – sowohl was seine Funktion als Welterklärungsmodell betrifft, als auch seine Wirkung. Schlimmer noch: Es werden selbst antisemitische Ressentiments reproduziert, etwa im israelbezogenen Antisemitismus. Nach dem 7. Oktober war es nicht Solidarität mit dem jüdischen Staat, die viele Linke auf die Straße trieb, sondern Verharmlosung oder sogar Bündnisse mit islamistischem Terror.

Ein Antifaschismus, der Jüdinnen und Juden im Stich lässt, macht sich selbst überflüssig – und hat der AfD nichts entgegenzusetzen.

Woran machen Sie fest, dass es sich dabei nicht um Einzelfälle, sondern um ein strukturelles Phänomen handelt?

Schon die schiere Zahl an sogenannten „Einzelfällen“ spricht eine deutliche Sprache. Antisemitische Ressentiments sind, wie ich im Buch zeige, auf allen Ebenen der Partei verankert: Führende AfD-Politiker, Bundestags- und Landtagsabgeordnete, Vorstandsmitglieder, Mitarbeiter, Funktionäre, Wahlkampfhelfer und Kommunalpolitiker greifen auf antisemitische Bilder zurück. Das Gedankengut ist von der Bundesspitze bis zur Basis präsent – und auch bei einem großen Teil der Wählerschaft. Es prägt Parteiprogramme, Kampagnen und insbesondere die Kommunikation in sozialen Medien.

Würden Sie aufgrund Ihrer Ergebnisse sagen, dass die AfD insgesamt eine rechtsextremistische Partei ist?

Ja. Die AfD nutzt die Mittel der liberalen Demokratie – Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit – um eben diese abzuschaffen. Die verhassten Parlamente, die „Quasselbuden“, sollen diskreditiert, lahmgelegt und zur Zielscheibe gemacht werden, um das Volk vom „Systemsturz“ zu überzeugen. Björn Höcke spricht vom „Verwesungsgeruch einer absterbenden Demokratie“ und ruft zur nationalen Revolution auf. Er kündigt an, dass „die Schutthalden der Moderne“ beseitigt würden, sobald die „Wendezeit“ gekommen sei. Das ist eindeutig als Drohung zu verstehen.

Die AfD richtet sich gegen alle Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie: gegen Emanzipation, Individualismus, Pluralität und Universalismus – gegen die Idee von Gleichheit und ein selbstbestimmtes Leben.

Was braucht es Ihrer Meinung nach für eine wirksame Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in der AfD? Ist ein Verbot der richtige Weg?

Ich befürworte ein Verbotsverfahren. Aber man sollte sich nichts vormachen: Das Problem verschwindet dadurch nicht. Das Denken, das in der AfD vorherrscht – Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, Hass auf queere Menschen – wird durch ein Verbot nicht ausgelöscht.

Ein Verbot würde lediglich Zeit gewinnen, um wirksame Gegenstrategien zu entwickeln. Und angesichts der zunehmenden Stärke der AfD ist dieser Zeitgewinn dringend nötig.

Für eine ernsthafte Auseinandersetzung braucht es zunächst ein Verständnis dessen, was Antisemitismus überhaupt ist – und welche gesellschaftliche Funktion er erfüllt. Antisemitismus ist mehr als Diskriminierung oder Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden. Er ist ein wahnhaftes, entlastendes Welterklärungsmodell – und genau deshalb so gefährlich.


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