Lion Immoor

Kunst freier Frauen

In Worpswede steht alles im Zeichen der Selbstermächtigung: Mit dem 150. Geburtstag von Paula Modersohn-Becker erreicht das ZEITENWENDE-Projekt seinen Höhepunkt – und erzählt von einem weiblichen Aufbruch, der bis heute wirkt.

Worpswede. Nach Heinrich Vogeler und Bernhard Hoetger steht nun Paula Modersohn-Becker im Zentrum: Die Worpsweder Ausnahmekünstlerin, gefeiert als Pionierin der Moderne, setzte ein frühes Zeichen weiblicher Selbstbestimmung. Im Künstlerdorf startete am Sonntag der fulminante Höhepunkt des siebenjährigen ZEITENWENDE-Projekts – mit einer vierteiligen Ausstellungsreihe, die Paula und ihre Weggefährtinnen sichtbar macht.

Viele Künstlerinnen folgten im Laufe der Jahrzehnte ihrem Ruf – ihre Werke sind heute Teil der Ausstellung „Der unteilbare Himmel“ in der Großen Kunstschau. „Wir wollen Paula an den Heimatort ihrer Inspiration zurückholen und Stimmen hören, die an der Seite von Modersohn-Becker um Sichtbarkeit kämpften“, erklärt Beate C. Arnold, künstlerische Leiterin der Großen Kunstschau.

Zu Lebzeiten kaum als eigenständige Künstlerin wahrgenommen und von männlichen Kollegen verkannt, begab sich Paula um 1900 auf ihren Weg der Selbstbefreiung und schuf in wenigen Jahren ein beispielloses Werk aus über 700 Gemälden und 2.000 Zeichnungen. Beckers Ziel, Künstlerin zu werden, teilt sie mit zahlreichen Frauen ihrer Generation – ihre malerischen Lebenswege verfolgt die Große Kunstschau in eindrucksvollen Werkreihen.

Künstlerinnen im Spannungsfeld

Im Spannungsverhältnis zwischen weiblichen Rollenidealen und der Selbstermächtigung als Frau schaut der erste Ausstellungsteil auf Zeitgenossinnen damals und heute. „Es gab weitaus mehr Künstlerinnen, als es uns der weltpolitisch und künstlerisch männlich-dominierte Diskurs heute erzählt“, sagt Dr. Stefan Borchardt.

Der Kurator hat die zentralen Motive damaliger Malerinnen und ihre Strategien – wenn sie in der Kunstszene Fuß fassen wollten – untersucht und nach Resonanzen in heutigen Positionen gefragt. Über Paulas lebensgroßen Akt der Selbstreflexion und Naturarbeiten ihrer „Zauberlandschaft Worpswede“ schlägt die Ausstellung den Bogen bis in die Gegenwart – etwa zur deutsch-iranischen Künstlerin Anahita Razmi.

Lichtzeichen im Außenraum

Als Stipendiatin der Worpsweder Museen und der Künstlerhäuser Worpswede entwickelte Razmi eine auf die Ausstellung bezogene Außenrauminstallation. „NEUN WORTE“ wirft einen künstlerischen Blick auf den weiblichen Kampf um Gleichberechtigung. Exemplarisch nutzt Razmi die Botschaft „Frau, Leben, Freiheit“ aus der kurdischen Frauenbewegung und trägt sie mit Lichtobjekten an sechs öffentliche Orte in Worpswede.

Razmis Lichtobjekte laden die Begriffe mit neuer Bedeutung auf – und stellen Paulas Werk in einen Dialog mit aktuellen, universalen und kulturübergreifenden Fragen, so die Künstlerin.

Ottilie, Martha, Clara: Drei Porträts weiblicher Selbstbehauptung

In der Kunsthalle widmet man sich Ottilie Reylaender, die 1898 als Malschülerin nach Worpswede kam. „Frei und unabhängig“ folgt die Ausstellung dem Weg Reylaenders, die sich in ihrer Ausbildung weniger an Lehrer Fritz Mackensen als vielmehr an Paula orientierte. Dynamisch, naturell, aber oft weniger idyllisch als Modersohn-Becker gelang es Reylaender, mit ihrer Kunst den Lebensunterhalt zu verdienen – bevor es sie später nach Mexiko zog. „Begleitet wird die Ausstellung von Ottilies Texten und Tagebucheinträgen, die ihre Wünsche, Träume und die Interaktion mit Paula hautnah dokumentieren“, sagt Kuratorin Cornelia Hagenah.

Im Haus im Schluh dreht sich derweil alles um die „befreite Muse“ Martha Vogeler. 1911 zeigten sich bei ihr erste Ausbruchstendenzen und der Wunsch nach wirtschaftlicher Eigenständigkeit. Die Künstlerin löste sich aus der Ehe mit Heinrich Vogeler und erfand sich neu – als Künstlerin, Unternehmerin und Frau. „Obwohl sie mit ihrer Entscheidung großen Mut bewies, suchte Martha lange nach Bestätigung für ihr Leben als eigenständiger Mensch“, sagt Vogeler-Urenkelin Berit Müller. 1920 erfüllte sich Martha den Traum vom „Haus im Schluh“, das schnell zur kreativen Heimat der hiesigen Kunstszene wurde. Heute leben hier Kuratorin Müller und ihre Familie, die in der aktuellen Ausstellung Beckers und Vogelers Arbeiten in Beziehung setzen – begleitet von originalen Tonaufnahmen.

Am Ende geht es in den Barkenhoff zu Paulas „verwandter Seele“ Clara Westhoff, die sie kurz vor der Jahrhundertwende in Worpswede kennenlernte. Auf der Suche nach künstlerischer Selbstbestimmung und einem eigenen Stil wandte sich Westhoff der Plastik zu, während Becker mit der Malerei alte Traditionen durchbrach. Unabhängig vom Schaffen ihrer Ehemänner zeigt die Ausstellung in über 60 Werken, wie Paula und Clara sich selbst und ihre Welt wahrnahmen. „Mit den psychologischen Büsten von Westhoff und Beckers Bildern, die ihr Innerstes nach außen kehren, lassen wir die Freundinnen durch ihre Kunst zu Wort kommen und porträtieren die Geschichte des Barkenhoffs“, so Kuratorin Dr. Kathrin Kleibl.

Cineographie und Lebenslinien

„Alle Ausstellungen sind durch eine abgestimmte Cineographie und Lebenslinien von Paula verbunden, die das Leben der Künstlerin mit dem ihrer Weggefährtinnen übereinanderstellen“, erläutert Beate C. Arnold. Ergänzt wird das Konzept durch sogenannte „Störer“ – farbige Schilder mit bewegenden, existenziellen Fragen, die beim Gang durch die vier Museen zum Innehalten und Nachdenken einladen.

Besuchsinformationen

Bis Anfang November sind die Kunstschau und der Barkenhoff täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Die Kunsthalle pausiert montags. Das Haus im Schluh öffnet dienstags bis freitags bis 14 Uhr, am Wochenende bis 18 Uhr. Mit dem Aktionsticket „Museum hoch 4“ sparen Besucher:innen sechs Euro beim Besuch aller beteiligten Museen.


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