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Patrick Viol

Kommentar: Keine falsche Sinnstiftung

Diese Woche fragt sich unser Redakteur, ob die Behauptung, das Gute an der Corona-Krise sei, dass sie die Menschen auf das Wesentliche besinne, so problemlos vertretbar ist.
Nur diejenige Gemeinschaft, die Distanz ermöglicht, vermag das Individuum zu schützen. Nicht nur abstrakt, sondern derzeit ganz unmittelbar.  Foto: Ilya Chashnik/wikicommons

Nur diejenige Gemeinschaft, die Distanz ermöglicht, vermag das Individuum zu schützen. Nicht nur abstrakt, sondern derzeit ganz unmittelbar. Foto: Ilya Chashnik/wikicommons

Natürlich, in schweren Zeiten braucht es Durchhalteparolen und der Zug, dem Schlimmen noch etwas Positives abzuringen, hat etwas Heilsames und Beruhigendes in einer unsicheren und vor allem bedrohlichen Zeit.
Auch wir in der Redaktion halten uns aufmunternd vor Augen, dass zum Glück die Erwartungen, die Regisseure in den letzten Jahrzehnten in schlechten Seuchenfilmen wie Contagion über das Verhalten von Menschen im Ausnahmezustand inszenierten, nicht eintreffen.
Ja, es beruhigt, zu sehen, dass die Menschen besser sind, als man gerne von ihnen - nicht nur in Filmen - annimmt. Und es ist eine Genugtuung, dass sich die vielen reaktionären Stammtischduseleien darüber, dass die Menschen „von Natur aus“ selbstsüchtig seien, sich blamieren. Denn es zeigt sich doch, dass es die Strukturen sind - und nicht irgendeine menschliche Natur -, die von uns verlangen, vor allem bei unserer Arbeit zuerst auf unseren Vorteil zu achten.
Ja, diese Krise offenbart, dass wir solidarische und kooperierende Wesen sein können. Aber mir gehen die Bejubelungen dieser Gemeinschaftskraft in der Krise dann doch etwas zu weit.
Aber was könnte mich daran stören, wenn jemand wie Joachim Löw schreibt, dass „die Menschen wieder ganz achtsam und aufmerksam miteinander umgehen“? Was ist mir daran zu viel, werden Sie sicher fragen, wenn Menschen derzeit sagen, die Pandemie besinne die Menschen wieder auf das „Wesentliche“, auf das, was wirklich zähle: auf Familie, Freundschaft, Gemeinschaft und Rücksicht?
Es ist ganz einfach, warum mir die Betonung einer solchen „Besinnung auf die Gemeinschaft als das Wesentliche“ durch die Krise negativ auffällt. Zum einen erscheint es mir als fraglich, ob die Lehre dieser Situation wirklich sein sollte: Gemeinschaft ist das Wesentliche der Menschen. Meines Erachtens sollte man lieber festhalten, dass Gemeinschaft nicht an sich, sondern nur dann von Wert ist, wenn sie dem Schutz des Individuums dient.
Würden das im Moment mehr Menschen begreifen, müsste man keine Ausgangssperren in Erwägung ziehen. Denn diejenigen, die von ihren Gemeinschaften nicht lassen können und sich weiterhin in Parks treffen, gefährden Einzelne.
Was mich aber am meisten an der Betonung der Offenbarung der Gemeinschaftskraft durch die Krise stört, ist, dass mit ihr unter der Hand eine Sinnstiftung des Sterbens und Leidens von Menschen betrieben wird. So etwas machen auch Autokraten im Krieg.
So sollte man, gerade weil dieser Ausnahmezustand eine massive Beschneidung der zivilen Gesellschaft erzwingt, wie seit dem Krieg nicht mehr, die mühsam errungene und gleichwohl stets bröckelige Zivilität in unserem Denken nicht aufgeben. Das heißt, darauf zu verzichten, dieser Menschen tötenden Naturkatastrophe einen moralischen Überschuss abzugewinnen. Keine Erkenntnis über die verborgene Güte in den Menschen ist es wert, dass dafür Menschen sterben.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich sage nicht, dass an der Solidarität derjenigen Menschen, die sich mit ganzer Kraft in dieser Zeit für andere Menschen einsetzen, etwas falsch ist. Im Gegenteil: Ich bin froh und dankbar, dass es sie gibt. Vom Supermarkt bis zum Krankenhaus leisten sie das Beste.
Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, dass man über die Freude an der Solidarität in der Krise nicht die Opfer der Katastrophe vergisst, die sie erst notwendig gemacht hat.
Bleiben Sie gesund.


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