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Patrick Viol

Kommentar: Eine Einschränkung von Telegram hülfe Rechtsradikalen

Den Messengerdienst Telegram zu verteufeln, ist im Diskurs über Rechtsradikale schick geworden. ihn stärker zu regulieren, erwiese dem Kampf gegen sie aber einen Bärendienst, findet Patrick Viol.
Rechtsradikales Gesindel betreibt in der Tat auf Telegram effiziente Agitation, der zu begegnen das politische Personal die letzten Jahre verschlafen hat.

Rechtsradikales Gesindel betreibt in der Tat auf Telegram effiziente Agitation, der zu begegnen das politische Personal die letzten Jahre verschlafen hat.

Man kennt das: Wen man verschläft, muss man sich äußerst beeilen, während man noch ziemlich verschlafen ist. In aller Hastigkeit und mit halb geöffneten Augen geht dann meistens einiges schief. Der Körper rotiert zwar, aber der Kopf ist noch im Halbschlaf und träumt vor sich hin.
Verschlafen hat auch die SPD während ihrer Regierungszeit mit der Union, und zwar die seit vielen Jahren sich vollziehende Radikalisierung und Agitation von Rechtsradikalen im Internet, z. B. auf Imageboards wie 8chan bzw. 4chan. Und nun, in der Ampelkoalition, rennt die SPD aus dem Schlaf gerissen kopflos im Innenministerium herum und hält mehr Überwachung des Messengerdienstes Telegram tatsächlich für eine effektive Antwort auf die fraglos problematische Entwicklung der rechtsextremen Szene im Netz.
In ihren Träumen mag die staatliche Regulierung oder gar die - rechtlich eigentlich unmögliche - Sperrung des Messengers die Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Kampf gegen Rechtsextremismus, gegen Hass und Hetze zum Erfolg führen. In Wirklichkeit verpasste aber weder die Abschaltung noch die fragwürdige Regulierung von Telegram nach dem unter Datenschützerinnen umstrittenen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG), ebenso wenig eine Verbannung aus den App-Stores oder die Verpflichtung von Nutzerinnen, Klarnamen zu benutzen der rechtsradikalen Szene einen schmerzhaften Schlag. In Wirklichkeit wäre die Umsetzung der genannten Vorschläge nur eine Einschränkung der Meinungs- und Kommunikationsfreiheit der Mehrheit der 500 Millionen Nutzer:innen, deren größtes Verbrechen in ihrem Anschlag auf guten Geschmack, Grammatik und Orthografie besteht. Denn das rechtsradikale Gesindel, das in der Tat auf Telegram effiziente Agitation betreibt, wanderte bei strengerer Überwachung in andere Kanäle ab - wie Kriminelle das halt so machen. Und das ist ganz einfach: Telegram-Server besitzen eine offene Programmierschnittstelle, die es anderen Anbietern oder Hackerinnen ermöglicht, weitere Apps zu entwickeln, mit denen auf Telegram zugegriffen werden kann. Und würde Telegram tatsächlich verboten, stünde mit Matrix ein Ersatz bereit, der so dezentral und damit so unregulierbar ist wie der Versand von E-Mails.
Klar, im ersten Moment verlören die Rechtsradikalen ihre Reichweite. Aber nicht lange. Denn die Menschen, die für ihre mal mehr, mal weniger subtil verpackte Ideologie empfänglich sind, werden ihnen folgen. Wahrscheinlich werden es sogar mehr als vorher sein. Gerade weil die Rechtsradikalen dann versteckter wären und klandestiner operieren müssten. Denn es geht den Verschwörungsgläubigen und Antisemitinnen doch ganz zentral - triebökonomisch betrachtet - um die narzisstischen Genüsse, die ihnen die Teilhabe an einem imaginierten Geheimwissen und die - gleichwohl unbewusste - Tatsache, beobachtet zu werden, bereiten.
So sind die diskutierten Regulierungsvorhaben als Maßnahmen gegen Rechtsradikalismus nicht nur von einem so ungeheuren Ausmaß politischer und theoretischer Naivität, dass man glauben möchte, sie stammten allesamt von Boris Pistorius. Sie wären darüber hinaus zum einen, weil sie letztlich nicht jene treffen, um derentwillen sie eingeführt werden sollen, nichts als autoritärer Humbug, mit dem sich Deutschland in eine Reihe mit China, Iran und Russland stellen würde, denen Telegram auch ein Dorn im überwachenden Auge ist. Und zum anderen erwiesen die Maßnahmen dem wirklichen Kampf gegen Verschwörungstheoretiker:innen und Neonazis einen Bärendienst. Denn sie verliehen dem Verfolgungswahn vom Überwachungsstaat unnötig Realität und rechtsradikalen Agitationsnetzwerken eine größere Anziehungskraft.
Das wäre mehr als fahrlässig in einer Situation, in welcher sich offenkundig der der Dauerkrise der Gesellschaft geschuldete Dornröschenschlaf der Vernunft nicht mehr als schwerfällige Resignation, sondern als ein so waches wie strafbedürftiges Bewusstsein ausagiert.


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