Patrick Viol

Kommentar: Die Furcht vorm starken Ich

Der niedersächsische Kampf gegen Extremismus verteidigt nicht die Freiheit, sondern den reibungslosen Ablauf des zerreibenden Status quo, kommentiert Patrick Viol.
Der Kampf gegen Extremismus ist zugleich also eine Zurechtstutzung des Individuums. Bild: D. Borst/commons

Der Kampf gegen Extremismus ist zugleich also eine Zurechtstutzung des Individuums. Bild: D. Borst/commons

In dieser Woche wurde zur besseren Verfolgung von Hatespeech und damit zur Bekämpfung von „Extremismus“ nicht nur die Kooperationsvereinbarung zwischen der Landesregierung und der Landesmedienanstalt beschlossen. Es wurde auch das Verfassungsschutzgesetz des Landes novelliert. Dadurch ist es zum einen von nun an möglich, „Informationen über minderjährige Extremisten“ zu sammeln, wie es in der Pressemitteilung der CDU-Landtagsfraktion heißt. Zum anderen wird der Einsatz von V-Leuten erleichtert und zu guter Letzt hat man das Recht von Bürger:innen, sich beim Verfassungsschutz Auskünfte einzuholen, reformiert. Es wurden die Auskunftsfristen verlängert, weil man so mehr „personelle Ressourcen ... bei der Beobachtung des wachsenden politischen Extremismus“ (CDU) zur Verfügung habe. Außerdem muss man künftig, wenn man vom Verfassungsschutz wissen möchte, was der über einen gespeichert hat, darlegen, weshalb man glaubt, ins Visier geraten zu sein. Das kommt einer Selbstbezichtigung gleich.
Hieran zeigt sich ein strukturelles Problem der staatlichen Bekämpfung des Extremismus. Sie scheint immer mit Eingriffen in die Freiheitsrechte aller einhergehen zu müssen - im Juni wurde z. B. mit der Begründung des Kampfes gegen Extremismus die Quellen-Telekommunikationsüberwachung beschlossen. Diese Doppelbewegung verweist aber nicht bloß einfach auf den - wie es gern formuliert wird - scheinbar unlösbaren Widerspruch von Sicherheit und Freiheit, in dem man sich halt für eine Seite entscheiden müsse. Nein, das Einhergehen des Kampfes gegen Extremismus mit Eingriffen in die Freiheit der Einzelnen verweist zum einen darauf, dass er seinerseits einen ideologischen Zweck verfolgt. Der Kampf gegen Extremismus gilt primär der Verteidigung des reibungslosen Funktionierens des die meisten von uns zermalmenden Maschinenwerks des Status quo. Und die dabei vollzogenen Freiheitsbeschränkungen zeigen zum anderen an, dass dieser Zweck sich nur durch ein in seiner Autonomie gestutztes Individuum hindurch erfüllt. Der Kampf gegen Extremismus ist zugleich also eine Zurechtstutzung des Individuums. Denn entwickelte sich dieses gänzlich zu seiner in seinem Begriff liegenden Autonomie: zu einem starken Ich - so scheint die Befürchtung -, bräche die Gesellschaft wohl zusammen.
Das belegt zum einen modellhaft die Reform des Auskunftsrechts der Verfassungsschutzbehörde. Gewährleistet man dessen effektives Funktionieren doch fortan dadurch, indem man Menschen durch Abschreckung davon abhält, von ihrem Recht Gebrauch zu machen, sich Auskünfte einzuholen. Zum anderen zeigt sich die im Zuge der Extremismusbekämpfung vollzogene Zurechtstutzung des Individuums zum Zweck eines störungsfreien gesellschaftlichen Betriebsablaufs an den Programmen der „Extremismusprävention“. Die wird - wie im Landesprogramm für Demokratie und Menschenrechte - lediglich in der Erziehung zu einer Identifikation mit dem demokratischen Gemeinwesen verortet. An keiner Stelle ist aber die Rede von einer Erziehung hin zu einem starken, kritischen Ich, zu einem selbstbewussten und autonomen Individuum. Das ist umso bitterer, weil aus bloßer Gruppenidentifikation - egal welchen Charakter die Gruppe hat - ein schwaches Ich resultiert, das den Nährboden für einen autoritären Charakter bildet. Das heißt: Solange der mehr als notwendige Kampf gegen Rechtsradikalismus, Islamismus und linken Antisemitismus auch einer gegen das autonome Individuum ist, wird es Opfer geben, die man hätte verhindern können.


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