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Patrick Viol

Kommentar: Corona führt zu Gedächtnisverlust bei Bildungspolitiker*innen von Patrick Viol

Hybridunterricht bedeutet nicht nur, dass Schüler*innen zuhause vor Laptops sitzen, sondern könnte dafür sorgen, dass Lehrkräfte ihre Sachautorität zurück erlangen könnten, welche ihnen die Digitalisierung aller Lebensbereiche vielerorts nimmt.
Dass viele Schüler*innen und engagierte Lehrer*innen denken, dass Unterricht im Klassenzimmer für alle derzeit nicht das qualitativ beste Modell ist, liegt vielleicht nicht nur an der konkreten Bedrohung durch das Virus. Bild: Schwitters 1923-25

Dass viele Schüler*innen und engagierte Lehrer*innen denken, dass Unterricht im Klassenzimmer für alle derzeit nicht das qualitativ beste Modell ist, liegt vielleicht nicht nur an der konkreten Bedrohung durch das Virus. Bild: Schwitters 1923-25

Die Ministerpräsident*innen der Länder haben bei der Bund-Länderkonferenz am Mittwoch gegenüber der Regierung durchgesetzt, dass die Schulen offenbleiben und es keinen automatischen Übergang in einen Hybridunterricht ab einem Inzidenzwert von 50 geben wird, wie es Merkel und ihr Stab vorschlugen. Änderungen der Unterrichtsgestaltung können nun zwar regional vorgenommen werden, wenn der Inzidenzwert die 200 übersteigt. Wie dann aber „weitergehende Maßnahmen“ aussähen, das kann von mehr Achtsamkeit auf Abstandsregeln bis zum digital halbierten Klassenzimmer reichen. Abhängig ist die konkrete Ausgestaltung von den technischen Gegebenheiten wie den persönlichen Fertigkeiten der Lehrer*innen vor Ort.
Grundsätzlich gilt also: Durchgehend geöffnete Schulen für alle Jahrgänge und damit volle Klassenzimmer haben „höchste Bedeutung“, wie es in dem Vorschlagspapier der Mi­nis­ter­präsident*innen hieß. Für sie auf jeden Fall und Eltern, die zur Lohnarbeit gezwungen sind.
Aber für Schülervertreter*innen, Lehrer*innen und Schulleiter*innen, die darauf drängen, früher und geregelter in den Hybridunterricht gehen zu können, um damit die Lernatmosphäre etwas zu verbessern, haben volle Klassenzimmer offenbar nicht die hohe Bedeutung wie für jene, die sich nicht in ihnen aufhalten müssen.
Nachvollziehbar meines Erachtens. Zum einen: Auch wenn es so sein sollte, dass Schule kein primärer Ansteckungsort ist, so könnten leerere Flure und halbe Klassenzimmer die Ansteckungs- aber auch die Quarantäneangst mindern, die man spätestens nach den ersten zwei Wochen Wegschluss empfindet. Wodurch gerade Jugendliche, die sich vom passenden Nagellack bis zum Waldsterben eh um alles mögliche simultan Sorgen machen, sich etwas besser fokussieren könnten.
Klar sind die verschiedenen Voraussetzungen Zuhause ein Problem. Aber dass offensichtlich nicht jedes Kind ein eigenes Zimmer hat und nicht jedes ein Elternteil, das die Zeit hat, zu helfen, sollte der Politik noch mal vor Augen führen, wie dringlich bezahlbarer menschenwürdiger Wohnraum und eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung sind. Aber das nur nebenbei denn jetzt zum anderen: Dass viele Schüler*innen und engagierte Lehrer*innen denken, dass Unterricht im Klassenzimmer für alle derzeit nicht das qualitativ beste Modell ist, liegt vielleicht nicht nur an der konkreten Bedrohung durch das Virus. Sondern eventuell daran, dass sie nicht unter demselben Gedächtnisverlust leiden, wie ihre Bildungspolitiker*innen. Denn seit Jahren beklagen doch Schüler*innen, dass die Lehr- und Lernqualität unter viel zu vollen Klassenzimmern leidet. Das scheint Corona die Entscheidungsträger*innen entlastend vergessen zu lassen.
Klar: Abstrakt hat Unterricht für alle vor Ort wahrscheinlich die höchste Qualität. Diskussions- und Reflexionsprozesse brauchen ein physisches Gegenüber und Reibungen zwischen Lehr- und Lernperson. Aber höchste Qualität heißt nicht: 30 Schüler*innen pro Klasse. Auch nicht, bloß Fakten auswendig lernen zu lassen. Wer kann das denn heute noch ernst nehmen, wenn er das ganze Wissen der Welt jederzeit in der Hosentasche trägt? Übrigens liegt in diesem Anachronismus meines Erachtens eine Ursache dafür, dass Lehrende nicht als eine mit Respekt zu behandelnde Sachautorität erscheinen und deshalb vielfach unwürdigem Verhalten sowohl von Schüler*innen wie Eltern ausgesetzt sind.
Jetzt wäre aber die Chance, Schule und Lernformen an den technischen Stand der Verhältnisse anzupassen. Das stumpfe Festhalten an vollen Klassen lässt sie verstreichen. Und damit die Möglichkeit, dass Lehrer*innen wieder mehr als Sachautorität erscheinen könnten. Denn sie müssen sich besser mit der digitalen Welt auskennen als ihre Zöglinge. Damit diese verstehen, dass auch der Umgang mit der virtuellen Welt spezifisch erlernt werden muss und keine bloße Möglichkeit ist, nur noch das zu glauben, was man eben will oder Algorithmen anbieten. Das hätte eventuell auch Jana aus Kassel geholfen, nicht vollends zu verblöden.


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