Patrick Viol

Kommentar: Bloße Selbstanklage ändert nichts

Antirassismus als bloße "Kritik weißer Privilegien" ist nicht nur ein unzureichender Ansatz, um Rassismus zu bekämpfen, er verdeckt sogar dessen Ursachen, findet Chefredakteur Patrick Viol.
Einfach nur Farbe: das schwarze Quadrat von Malewitsch. Bild: commons.

Einfach nur Farbe: das schwarze Quadrat von Malewitsch. Bild: commons.

Der Mord an George Floyd und die massenhaften Proteste gegen rassistische Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten haben auch hierzulande zu Protesten gegen Rassismus, einer Diskussion über Polizeigewalt und zu einer Verallgemeinerung der Debatte über ‚Privilegien weißer Menschen“ geführt, die man in Deutschland bisher nur in Uniseminaren verhandelte.
Auch wenn sich berechtigte Zweifel an gewissen Beweggründen der hiesigen Proteste formulieren lassen, z. B. aufgrund des teilweise offenkundigen Antiamerikanismus; auch wenn unbedingt die Vereinnahmung von George Floyd für den antisemitischen Widerstand gegen Israel zu skandalisieren ist, so ist die Sache, die die Proteste befördern: eine gesellschaftliche Debatte über die Ursachen von Rassismus und darüber, ob und wie er in staatlichen Institutionen wirksam ist, absolut zu begrüßen. Doch wenn in der Debatte die Ursachen von Rassismus lediglich als Resultate „weißer Privilegien“ und Rassismus bloß als Legitimations- und Bevorteilungssideologie einer „weißen Vorherrschaft“ gefasst werden, wie es derzeit medial und akademisch in Mode ist, dann wird sich substanziell an der rassistischen Klassifikation von schwarz und weiß gar nichts ändern. Vielmehr werden dadurch die Kategorien verfestigt. Denn so trägt man zum einen nur dazu bei, dass sich „Weiße“ in eine moralisch erhebende Selbstanklage flüchten. Des Weiteren verdeckt die moralisierende Reduzierung von Rassismus auf die Existenz weißer Privilegien und den Mangel an gesellschaftlicher Teilhabe von Schwarzen, dass Rassismus Ausdruck von universeller Herrschaft und allgemeiner Unterdrückung und Ausbeutung ist. So führen bloße Selbstanklage und Ausschlusskritik letztlich dazu, dass die gesellschaftlichen Ursachen von Rassismus und dessen Gewalt über das Leben von Menschen mit dunkler Hautfarbe unangetastet bleiben.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich befürworte definitiv die Verbreitung des rationalen Kerns der ‚Kritik weißer Privilegien‘. Nämlich, dass Weiße, mich eingeschlossen, sich durchaus dessen bewusst sein sollten, dass sie eine Person, die sich z. B. im Verkehr fährlässig verhält, deren Haut aber aus derselben Milchkanne stammt wie die eigene, stets als Individuum beschimpfen würden. Eine schwarze Person dagegen meistens als bloßes Exemplar einer Gruppe, von der man negative Vorstellungen hat. Man sollte durchaus wissen, dass es einem entindividualisierenden und damit erniedrigenden Denken geschuldet ist, dass man z. B. bei der Vergabe einer Wohnung zögert, wenn der Nachname des potenziellen Mieters mit zwei Konsonanten beginnt oder dass man als Polizist vornehmlich Personen kontrolliert, die nicht weiß sind. Doch dass man in dieser Form denkt; dass man Personen anderer Hautfarbe nicht als Individuum, sondern - herabwürdigend - als bloßen Vertreter einer Gruppe betrachtet, kann die bloße Tatsache, dass weiße Menschen das Privileg haben, dass sie sich nicht gegenseitig auf ein Gruppenexemplar reduzieren, nicht erklären, sondern ist selbst erklärungswürdig. (Und in puncto Antisemitismus versagt diese Erklärung vollends).
Leisten kann das indes ein Blick auf die sozio-ökonomische Situation aller Menschen. Weil sie allgemein, um anerkannter Teil dieser Gesellschaft zu sein, gezwungen sind, sich als produktives Individuum zu erweisen, zugleich aber nicht über die Mittel verfügen, die ihnen die Verwertung ihrer Person garantiert, fürchten sie stets um die eigene Entwertung. Im Rassismus bekämpfen Menschen diese Furcht und ihr „Unwohlsein in der eigenen Haut“ auf ideologische Weise. Der ‚Andere‘ als bloßes entindividualisiertes Exemplar symbolisiert ihnen die Folgen, die die Niederlage in der Konkurrenz mit sich bringt: Verlust der freien Verfügung über sich selbst, letztlich der Individualität. Im Rassismus nimmt man die mögliche eigene Entwertung in Gedanken am anderen vorweg, um die Angst abzuwehren, dass es einen selber treffen kann. Rassismus besorgt einem die Identität, die einem die Verhältnisse verwehren. Auf Kosten anderer.
Das heißt aber nicht, dass Rassisten, weil ihr Rassismus Ausdruck der strukturellen Unmöglichkeit der Menschen ist, aus sich heraus und ihrem Tun, eine Sicherheit über ihr Leben und ihre Identität zu gewinnen, nicht verantwortlich dafür wären, was sie sagen und tun. Jeder Mensch ist, weil er die Freiheit zumindest der Reflexion besitzt, verantwortlich dafür, wie er die Misere seines Lebens aufgrund der Verhältnisse intellektuell verarbeitet und/oder ausagiert.
Was das Dargelegte aber heißt, ist: Rassismus erschöpft sich nicht nur nicht in weißen Privilegien, sondern lässt sich ebenso wenig auf die Konfliktlinie zwischen unterprivilegierten Schwarzen und Macht besitzenden Weißen reduzieren. Nicht aber, weil es auch Schwarze gibt, die besser gestellt sind, als manche Weiße, sondern weil Rassismus ursächlich überhaupt nicht an eine Machtposition gebunden ist. Er ist Produkt des Konkurrenzkampfes aller gegen alle und der daraus entspringenden Unmöglichkeit gelingender Individualität. Antirassismus, der seine Sache ernst meint, darf sich nicht in bloßer Selbstanklage von gut betuchten Weißen ergehen, sondern müsste für eine Gesellschaft streiten, die so eingerichtet ist, dass ein glückliches Auskommen der Menschen und ihre Betrachtung als Individuen nicht von ihrer Produktivität und ihrem Durchsetzungsvermögen in der Konkurrenz abhängig sind. Damit - mit der Verwirklichung von Freiheit - wäre auch die Konfliktlinie von schwarz und weiß erloschen. Ein Gedanke übrigens, dessen gesellschafticher Einlösung Martin Luther King jr. sein Leben widmete.


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