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„Die soziale Frage richtig stellen“: Interview mit Mizgin Ciftci:

Osterholz-Scharmbeck (jm). Mizgin Ciftci wurde erneut in den Landesvorstand der Partei Die Linke in Niedersachsen gewählt. Im Interview spricht der Kreisstädter über Ziele bei der Landtagswahl, linke Politik der Gegenwart und seine Arbeit als Gewerkschaftssekretär.
Im Mittelpunkt linker Politik muss immer die soziale Frage stehen. Aber: Man stellt die soziale Frage nicht richtig, wenn man dabei außen vor lässt, dass es vor allem Frauen und Migranten sind, die schlecht bezahlte, gering geschätzte Arbeit in dieser Gesellschaft leisten. Mizgin Ciftci.  Foto: priva

Im Mittelpunkt linker Politik muss immer die soziale Frage stehen. Aber: Man stellt die soziale Frage nicht richtig, wenn man dabei außen vor lässt, dass es vor allem Frauen und Migranten sind, die schlecht bezahlte, gering geschätzte Arbeit in dieser Gesellschaft leisten. Mizgin Ciftci. Foto: priva

Bild: Patrick Viol

Anzeiger: Hallo Mizgin, erst mal herzlichen Glückwunsch zur Wiederwahl in den Landesvorstand der Linken. Mit Arnold Neugebohrn ist ein weiterer Genosse aus dem Landkreis im Parteivorstand vertreten. Erklärtes Ziel ist der Einzug in den Landtag im nächsten Jahr. Mit welchen Themen geht ihr in den Wahlkampf?
 
Ciftci: Bei der Landtagswahl sind uns folgende Themen wichtig: Für Menschen mit niedrigem und auch für Menschen mit mittlerem Einkommen gibt es immer weniger bezahlbaren Wohnraum. Da fordern wir vom Land Niedersachsen mehr sozialen Wohnungsbau und auch, dass die Kommunen finanziell in die Lage versetzt werden, den Wohnungsbau vor Ort wieder vorantreiben zu können. Auch im Stadtrat sprechen alle Fraktionen dieses Thema an, alle sagen: „Ja, wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum aber wir haben kein Geld dafür; das Land muss etwas tun.“ Und bisher passiert da leider nicht viel. Das ist eine Forderung.
Wir kämpfen auch für eine sozial-ökologische Verkehrswende. Viele Menschen im Landkreis wissen es: Öffentlicher Personennahverkehr findet in vielen Dörfern gar nicht statt, man ist auf das Auto angewiesen und der ÖPNV ist viel zu teuer. Das ist weder sozial gerecht, noch klimafreundlich. Langfristig ist unser Ziel ein kostenloser öffentlicher Personennahverkehr.
Wir kämpfen natürlich auch für gute Bildung. Wir wollen mehr Gesamtschulen in Niedersachsen haben, damit wir mehr Bildungsgerechtigkeit schaffen. In der wissenschaftlichen Debatte ist seit Jahrzehnten bekannt, dass das dreigliedrige Schulsystem nicht zu mehr Bildungsgerechtigkeit führt, sondern im Gegenteil bestehende Ungleichheiten fortsetzt. Deswegen wollen wir auf das Erfolgskonzept Gesamtschulen setzen und auch die Inklusion weiter vorantreiben.
Ein ganz wichtiges Thema in der Corona-Krise sind auch die Kommunen in Niedersachsen, die chronisch unterfinanziert sind. Vor allem die Kommunen im strukturschwachen ländlichen Raum. Das führt dazu, dass sie kaum noch ihre Pflichtaufgaben erfüllen können. Man muss sich nur mal unsere Straßen anschauen, von unseren Schulen habe ich schon gesprochen. Wir wollen die Kommunen mit einem Rettungsschirm finanziell entlasten. Das ist auch eine soziale Frage, weil nach der Corona-Krise die Steuereinnahmen zurückgehen. Wenn da nicht gegengesteuert wird vom Land, bezahlen am Ende die Bürgerinnen und Bürger mit dem Abbau öffentlicher Daseinsvorsorge den Preis für die Corona-Krise. Das wollen wir verhindern.
 
Anzeiger: Kommt für dich auch eine Kandidatur für einen Sitz im niedersächsischen Parlament infrage?
 
Ich kann mir das auf jeden Fall vorstellen, letzten Endes entscheidet aber die Partei. Die Genossinnen und Genossen müssen sagen: „Jawoll, Mizgin macht das, du bist der geeignete Kandidat.“ Dann würde ich das auch gerne machen.
 
Anzeiger: Du hast ein Lehramtsstudium absolviert, bist aber letztlich Gewerkschaftssekretär bei ver.di geworden. Wie ist es dazu gekommen?
 
Ja, ich bin Gesamtschullehrer für Deutsch und Politik, habe auch zwei Jahre an verschiedenen Brennpunktschulen in Bremen gearbeitet und das hat mir sehr viel Spaß gemacht. Ich war aber sofort auch gewerkschaftlich aktiv, weil ich auch die Ungerechtigkeiten im Bildungssystem gesehen habe und weil ich für bessere Arbeitsbedingungen streiten wollte. Dann hat sich angeboten, hauptberuflich zur Gewerkschaft zu wechseln. Da habe ich mir gedacht, wenn ich quasi das Hobby, meine Leidenschaft, zum Beruf machen kann – für bessere Arbeitsbedingungen streiten, für bessere Arbeitsbedingungen kämpfen – dann mache ich das gerne.
 
Anzeiger: Welche Rolle spielt die Gewerkschaftsarbeit denn heute in linker Politik?
 
Für uns ist es ja ein Grundkonflikt in unserem Wirtschaftssystem, dass die arbeitende Bevölkerung kaum bis gar nichts besitzt, diejenigen, die aber andere für sich arbeiten lassen – vor allem die großen Konzerne – so viel Reichtum anhäufen, dass wir ein großes Problem mit sozialer Ungleichheit haben. Daraus ergibt sich auch ein Demokratieproblem. Wenn Banken und Konzerne zu mächtig werden, muss man sich irgendwann die Frage stellen, wer eigentlich wirklich noch die Macht in diesem Staate hat. Das kann man auch jetzt bei den Korruptionsaffären in der CDU beobachten. Das ist auf jeden Fall eine Entwicklung, die sehr gefährlich ist, wo man gegensteuern muss. Da leisten Gewerkschaften ihren Beitrag, weil sie in jeder Tarifauseinandersetzung dafür kämpfen, dass die Beschäftigten, die die Profite erarbeiten, auch ihren gerechten Anteil am gesellschaftlichen Reichtum bekommen. Deswegen macht mir diese Arbeit sehr viel Spaß.
 
Anzeiger: In der SPD tobt gerade ein Streit um Identitätspolitik, ist das auch für euch im Parteivorstand der Linken ein Thema? Vor deinen Parteigenoss:innen hast du die historische Aufgabe der Linken betont, „auf der Seite derer zu stehen, die nichts haben außer ihrer Hände Arbeit.“ Das klingt nach einem traditionellen Verständnis linker Politik. Wie siehst du diesen Konflikt?
 
Im Mittelpunkt linker Politik muss immer die soziale Frage stehen. Aber: Man stellt die soziale Frage nicht richtig, wenn man dabei außen vor lässt, dass es vor allem Frauen und Migranten sind, die schlecht bezahlte, gering geschätzte Arbeit in dieser Gesellschaft leisten. Ich denke da an die Pflege, aber auch an Jobs in der Gastronomie und in den Schlachthöfen. Einen künstlichen Widerspruch zur sogenannten „Identitätspolitik“ aufzumachen, halte ich für falsch. Wer bestimmte Gruppen gegeneinander ausspielt – egal ob Arbeiter gegen Arbeitslose oder Deutsche gegen Migranten – gießt am Ende Wasser auf die Mühlen der AfD. Linke Politik muss immer Menschen zusammenbringen und ihre Kämpfe für eine bessere Gesellschaft verbinden. Es gibt einen schönen Satz von Marx, den man da immer zitieren kann, dass es „alle Verhältnisse umzuwerfen gilt, in denen der Mensch ein geknechtetes und erniedrigtes Wesen ist“. Dazu gehört das kapitalistische Ausbeutungssystem, dazu gehören aber auch sexistische Unterdrückung und rassistische Diskriminierung. Das heißt also: Man muss die soziale Frage auch feministisch und antirassistisch stellen.
 
Anzeiger: Du unterstützt auch die Fridays For Future Bewegung vor Ort in Osterholz-Scharmbeck. Auf der Kundgebung letzte Woche hast du vor den Teilnehmer:innen für eine Allianz von Gewerkschaften und Klimaaktivist:innen geworben. Wie können Gewerkschaften aus deiner Sicht dabei helfen, die Klimakrise zu bewältigen?
 
Ich glaube, dass Gewerkschaften da eine ganz wichtige Rolle spielen können. Ein Beispiel: Wenn wir das Klima schützen wollen, müssen wir weg vom motorisierten Individualverkehr und hin zu mehr öffentlichem Personennahverkehr. Dafür brauchen wir aber auch bessere Arbeitsbedingungen, damit sich mehr Menschen für diese Berufe entscheiden. Wir brauchen eine bessere Taktung und bessere Anbindung in allen Dörfern Niedersachsens, und vor allem brauchen wir günstigere Ticketpreise.
Hier gibt es also einen Schulterschluss für gute Arbeit, Klimagerechtigkeit und mehr Mobilität für alle Bürger. Das heißt, im Prinzip kämpfen Gewerkschaften und Fridays For Future dort in unser aller Interesse.
 
Anzeiger: Das waren meine Fragen, vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast. Das letzte Wort gehört dir.
 
Ich freue mich auf jeden Fall über das Interview. Ich finde es schön, wenn man auch in kleinen Blättern über große Fragen der Politik diskutieren kann, weil es letzten Endes uns alle betrifft.
 
Das Gespräch führte Jörg Monsees.


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