Interview mit Dr. Henning Scherf übers Alterwerden und gesellschaftlichen Zusammenhalt
ANZEIGER: Was bedeutet Altwerden 2020 in Deutschland?
Scherf: Man muss sich, egal wie alt man ist, darauf einstellen, dass wir in einer Gesellschaft gelandet sind, die immer älter wird. Die Biografien verlängern sich ständig. Menschen in meinem Alter haben heute, anders als die Generationen davor, noch eine lange Perspektive vor sich.
Dass das Altsein nicht identisch damit ist, das Leben zu beenden, sondern dass das Altsein ein neues Kapitel im Leben ist, das Eigengewicht und eigene Gestaltungsmöglichkeiten hat; dass Altsein etwas ist, auf das man sich freuen kann, wo man noch kreativ und neugierig sein kann - das ist eine neue Lage. Darauf sich einzurichten, rate ich allen, die in diese Situation kommen. Und den Jungen rate ich, uns Alte nicht als ein Anlass zur Sorge zu nehmen, sondern uns zu beteiligen. Sodass wir den Jungen mit unserer Erfahrung und unseren Kräften beispringen können. Dass wir immer mehr Alte haben, die immer mehr Zeit und Lust haben etwas zu machen, ist auch ein Vorteil für die Jungen.
ANZEIGER: Das Stichwort ist hier das selbstbestimmte Altwerden, dass also Senior*innen ihren späteren Altersabschnitt selbstbestimmt gestalten wollen.
Scherf: Das will man ja von Anfang an. Auch junge Menschen wollen ihr Leben selbstbestimmt gestalten. Aber das Besondere am Alter ist, dass die Berufstätigkeit nicht mehr das Prägende ist. Plötzlich wächst mir eine neue Freiheit dazu. So ist es eine Freude, alt zu werden und diese Freiheit, diese Gestaltungsmöglichkeit zu nutzen.
ANZEIGER: Dazu müssten aber auch die gesellschaftlichen Bedingungen gegeben sein. Große Schwierigkeiten für Senior*innen ergeben sich heute, wenn sie für sich eine neue und vor allem kleinere Wohnung finden wollen.
Scherf: Das ist ein riesiges Thema. Das beschäftigt Millionen. Sie sind davon betroffen, dass ihre Wohnungen nicht mehr bedarfsgerecht sind. Viele alt gewordene Menschen leben in ihren Familienwohnungen, die sie früher mit ihren Kindern gefüllt haben, also mit mehr Räumen, als sie wirklich brauchen. Nur mit großer Mühe gelingt es, diese Häuser und Wohnung in altengerechte Quartiere umzubauen, in denen nicht 4 bis 5 Zimmer zu versorgen sind, sondern lediglich 1,5. In denen alles ebenerdig ist und wo man, wenn man Glück hat, seine Nachbarn und die Menschen, mit denen man unter einem Dach zusammenkommt, wirklich in seinen Alltag einbeziehen kann und sich nicht abriegelt und alleine bleibt.
Es ist eine Kunst, die für Familiennutzung gebauten Wohnungen so umzubauen, dass sie altengerecht sind, und gleichzeitig eine reizvolle Mischung aus Selbstständigkeit und Nachbarschaftlichkeit werden. Dass man so wohnen kann, dass man Menschen unter einem Dach wohnt, die mir helfen, wenn ich Hilfe brauche und um die ich mich kümmere, solange ich kann. Das ist ein ganz spannendes Thema: Das ist für die Alten wichtig, das ist für die Gemeinden wichtig, das ist für die Nachbarschaft wichtig.
Ich sage mal, der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin, die dieses riesen Handlungsfeld übersieht, die muss man abwählen, die haben ihre Aufgaben nicht kapiert. Gerade in so überdichten Quartieren wie Osterholz-Scharmbeck ist das eine riesige Aufgabe.
ANZEIGER: Was kann denn die Politik tun, um Alterseinsamkeit aktiv entgegenzuwirken?
Scherf: Man muss viele Quartiere und Plätze haben, an denen Alte sich bewegen können. An denen sie andere treffen können. Da ist es eine große Hilfe, wenn man die Generationen mischt. Wenn man nicht „Altenghettos“ schafft, sondern wenn man Alte mit jungen Familien, die kleine Kinder haben, zusammenbringt. Wo wir Alten dann auf die Kinder aufpassen können und die berufstätigen Eltern, dann ohne Sorge ihrer Arbeit nachgehen können, weil die Alten ja da sind. Die Quartiere zu mischen, ist das A und O. Ich bin strikt dagegen, dass wir immer mehr Heime bauen und immer mehr Alte in Heime stecken, wo gleichzeitig immer weniger Pflegepersonal vorhanden ist.
Ich bin dafür, dass die Alten in ihren gewachsenen Nachbarschaften bleiben, wo sie sich wohlfühlen. Hier müssten Kommunalpolitiker Vernetzungen schaffen und dann mit einer sensiblen Ambulanz die Unterstützungen anbieten, die alleinlebende und mit anderen zusammenlebende Alte brauchen, wenn sie zum Beispiel nicht mehr so gut laufen können oder Gedächtnisprobleme haben. Die brauchen dann zwar Unterstützung und Hilfe, aber das ist ambulant zu machen. Deswegen: Ausbau der Ambulanz!
ANZEIGER: Wie gestaltet sich das Zusammenspiel der Generationen derzeit?
Scherf: Es wächst ständig. Die Bundesregierung macht alle 3 bis 4 Jahre einen Freiwilligenbericht. Daran kann man sehen, dass immer mehr über 60-Jährige sagen, wie würden gerne mitmachen, helfen und Aufgaben übernehmen. Das sind Potenziale, die in unserer Gesellschaft existieren. Das muss man als Kommunalpolitiker begreifen, vor allem der, der kein Geld hat. Der muss auf die Alten zugehen und sagen: Mit euch möchte ich dieses Projekt zusammen machen. Mehrheitlich sagen die Alten: Das können wir uns vorstellen.
Ich geh ja regelmäßig in eine Grundschule. Da sind wir 30 Senioren, die der Grundschule freiwillig bei ihren verschieden Aufgaben helfen, wie Förderunterricht, Schulgartenpflege, oder Essensausgabe.
Es ist wunderbar, wie die Kinder darauf abfahren, wie die jungen Lehrerinnen das als Unterstützung gut finden; dass wir das zusammen machen.
Es ist ganz wichtig, dass wir keine Mauern zwischen die Generationen bauen, sondern dass wir so viel Begegnung und Austausch wie möglich haben. Das tut allen gut.