Eigeninteresse statt Erkenntnisinteresse: Heinzelmännchentheater -
„Muss verhindert werden“, schrieb Julian Reichelt. Und sie wurde verhindert. Frauke Brosius-Gersdorf zog ihre Kandidatur für das Bundesverfassungsgericht zurück. Die Union hatte ihr signalisiert, dass sie nicht gewählt würde. Zudem drohte ein Aufschnüren des „Gesamtpakets“ für die Richterwahl, was auch die beiden anderen Kandidaten gefährdet hätte, die Brosius-Gersdorf schützen wollte.
Im Lager ihrer Kritiker, die sie als linke Aktivistin attackierten, dürfte es nun – in der Wortschöpfung ihres geistigen Rädelsführers Ulf Poschardt – heißen: Ein „Shitbürger“ an den Schaltstellen der Macht weniger.
Der „Shitbürger“ sei laut Poschardt in seinem gleichnamigen Buch die Ausgeburt eines Links-/Grün-Bürgertums, das den liberalen Kompass der Gesellschaft aktivistisch „zudefäkiere“, sich parasitär im deutschen Staat eingenistet, ihn aufgebläht und das Land kulturell wie ökonomisch verwüstet habe.
Brosius-Gersdorfs Kritiker liegen jedoch falsch – selbst dann, wenn sie tatsächlich eine explizite Shitbürgerin wäre. Denn es sind mehr „Shitbürger“ geworden, da sich ihre Gegner durch die Art ihres Umgangs mit der Juristin selbst als „Shitbürger“ entlarvt haben, nur eben als liberal- bis rechtskonservative.
Schauen wir uns zur Begründung meiner These den „Shitbürger“ einmal genauer an.
Der Shitbürger
Der „Shitbürger“ betrachte sich selbst als gut - weil er seine Verstrickung in die deutsche Geschichte wie jede politisch nicht korrekte Haltung aus sich und von sich abspalte. Sein Engagement richte sich primär gegen rechts, das er vor allem zur Darstellung seines durchweg guten, politisch sterilen Charakters betreibe. Seine typische Geisteshaltung sei die Anmaßung, seine Weltanschauung verkaufe er als Wissenschaft und er serviere alle ab, die es wagen, ihm zu widersprechen.
Er sei „woke“, „progressiv“ und spreche ausschließlich in der „Wir-Form“. Seine Sprache habe er „an das Gängelband der Moral gelegt“. Sie sei „keim- und schwingungsfrei und als solche eine Schrumpfform des Aufgeklärten, reduziert auf den Affekt des Moralischen (...) regrediert zur moralischen Lehranstalt“. Die Sprache des „Shitbürgers“ sei „eine autoritäre Anmaßung der freien Wortwahl gegenüber und eine zeitgeistliche Gebücktheit dem vermeintlich innovativen moralisch-politischen Komplex gegenüber“. Er argumentiere nicht, sondern verurteile jene, die nicht seinem Weltbild entsprächen.
Ringen um Macht
Wie in jeder guten Übertreibung – die reale Tendenzen zuspitzt, um sie kenntlich zu machen, statt sie in Differenzierungen aufzulösen – liegt auch in Poschardts Beschreibung (!) des seit seinem Durchmarsch durch die Institutionen in Kultur, Medien und Politik tonangebenden linksgrünen bzw. akademisch-progressiven Milieus mehr als nur ein Funken Wahrheit. Sein Begründungszusammenhang ist ideologiekritisch jedoch auf Styropor gebaut, und sein Impetus gleicht dem eines Javier-Milei-verliebten, daueradoleszenten FDPlers. Ausdruck dieses intellektuellen Seichtwassers ist unter anderem, dass Poschardt affirmativ Foucault und Nietzsche als Gewährsmänner seiner Kritik heranzieht – obgleich beide die theoretischen Ahnherren der Postmoderne sind, deren Ausgeburt der „Shitbürger“ ist. Dennoch: Weder sind dessen Existenz noch seine Macht ein paranoides Hirngespinst neu- oder altrechter Spinner.
Kritisiert wird der „Shitbürger“ aus der Linken heraus seit fast 50 Jahren. Der Soziologe Wolfgang Pohrt etwa geißelte unablässig die in der Friedensbewegung der 80er entstandene Frühform des Shitbürgers. Die international bekannte marxistische Philosophin Nancy Fraser kritisierte ihn – wenn auch mit problematischem Ideologieverständnis – unter dem Begriff des „progressiven Neoliberalismus“. Und die materialistischen Sozialphilosophen Ingo Elbe und Hendrik Wallat analysieren systematisch seine theorieaktivistische Vorhut in Universität und Politik: Elbe in seinem Buch „Antisemitismus und postkoloniale Theorie. Der »progressive« Angriff auf Israel, Judentum und Holocausterinnerung“, Wallat zuletzt in seinem Essay „Der Progressive Wille zur Macht“, erschienen in der Zeitschrift „Casablanca – Texte zur falschen Zeit“.
Wallat etwa bescheinigt der hegemonialen Linken, „eine veritable Zerstörung aufklärerischer Kritik und ihrer geistigen Grundlagen“ zu betreiben. „An die Stelle von Argumenten und rationaler Diskussion setzen die Progressiven das autoritäre Sprechverbot, das Aufklärung durch Denunziation ersetzt, und die relativistische Reduktion von Wissenschaft auf einen Machtdiskurs, den man selbst zu dominieren trachtet“, so Wallat weiter. Ihnen gehe es allein um den Kampf um geistige Hegemonie und Diskurshoheit. Ihr Verhältnis zur Wissenschaft sei daher instrumentell. Zum einen politisierten sie die Wissenschaft und täten so, als ob sich aus wissenschaftlichen Erkenntnissen unmittelbar ein moralisches Sollen ableiten ließe – womit sie ihr die Freiheit nähmen. Zum anderen treibe sie nicht das Ringen um Wahrheit, sondern um Macht an. Ihr Ziel sei nicht die individuelle und individuell vermittelte kollektive Freiheit einer Gesellschaft autonomer Individuen, sondern „die Substitution von Freiheit durch autoritäre Umerziehung im Zeichen progressiver Ideologie“.
Frei sprechende Individuen
Wallats Ausführungen unterscheiden sich von Poschardts dadurch, dass sie ihren Gegenstand nuanciert und kenntnisreich darstellen, während der Welt-Herausgeber abstrakt von Moralismus und „Wissenschaftstarnung“ spricht – ohne ein Wort dazu, welche Wissenschaft, welche Moral eigentlich das Problem sei und worin der Unterschied zum Moralismus bestehe. Wallat betreibt begrifflich fundierte, am Gegenstand belegte Kritik; Poschardt hingegen Dog-Whistling: Er wirft einem bestimmten Publikum Buzzwords zu, von denen es emotional, ohne Denkanstrengung abgeholt wird.
Der Unterschied ums Ganze: Wallat argumentiert aus dem Interesse an einer Gesellschaft, in der sich über Individualisierung eine kollektive Freiheit jenseits des kapitalistischen Verwertungszwangs vermittelt. Poschardts antishitbürgerliche Form der Individualisierung führt dagegen zu kollektiver Unfreiheit. Ihm geht es lediglich um starke Individuen, die ihre strukturelle Auslieferung an den allgemeinen Konkurrenzkampf willentlich, euphorisch und tatkräftig annehmen. Die von Poschardt angestrebte Emanzipationsfähigkeit der Gesellschaft ist „anarchokapitalistisch“; sie will nicht Ausbeutung überwinden, sondern lediglich Bürokratie und Wirtschaftsflaute hinter sich lassen.
Dennoch verleihen Wallats Ausführungen Poschardts Beschreibungen eine gewisse Triftigkeit: Sie liefern einen intellektuell tragfähigen Begründungszusammenhang, der Argumente statt Erzählungen und Begriffe statt Reizworte bietet. Und Wallat würde, wie auch ich, sowohl Poschardts antishitbürgerlichen Role Models wie Bruce Wayne, Dr. House oder Saga Norén als auch seiner Forderung nach einer freien Sprache „mit scharfen Kanten und bösen Fallen“ attestieren, bessere Bedingungen für eine freie Gesellschaft zu schaffen als das konformistische, im unbewussten Ambivalenzverhältnis zur Macht stehende Shitbürgertum. Denn unangepasste, auf die Sache hin und um der Wahrheit willen denkende, in der Ich-Form frei sprechende sowie kollektivscheue und ambivalenzoffene, abgründige Individuen sind Verkörperungen aufklärerischer Autonomie – ohne die Freiheit nicht zu haben ist.
Moralistisches Heinzelmännchentheater
Moralismus ist, gesellschaftskritisch betrachtet, das Gegenteil von Moral. Er ist ein Krisensymptom der postbürgerlichen Gesellschaft, in der die Einzelnen, ohnmächtig vor einer bewegungslos erscheinenden Welt, nicht mehr an die Möglichkeit materieller Emanzipation von Unrecht und Leid glauben. Dieser Glaube, der sich in den kategorischen Imperativen von Kant und Marx ausdrückt, wird ersetzt durch den Drang des Vereinzelten, das Verhalten von sich und anderen zu korrigieren. Moralismus ist Selbstgefälligkeit, Distinktion und Fremdregulation – Pose und symbolisches Kapital des Guten in einer schlechten Welt –, der umso härter, schriller und begriffsloser urteilt, je weniger er sich unbewusst imstande sieht, die Welt zu verändern.
Moral dagegen ist Autonomie: die Fähigkeit, gesellschaftliche Verhältnisse und das eigene Handeln kritisch zu reflektieren, geleitet vom Gedanken der Emanzipation angesichts gesellschaftlichen Unrechts, seiner ideologischen Affirmation oder wahnhaften Übersteigerung.
Erinnern wir uns daran, wie mit Brosius-Gersdorf und ihren Thesen zu Menschenwürde und Schwangerschaftsabbruch umgegangen wurde, zeigt sich unschwer: Bei ihren Kritikern von „Welt“, „Nius“, „Apollo“, Union und AfD handelt es sich nicht um die von Poschardt geforderten, Batman und Dexter ähnelnden, ambivalenten, moralismusfreien, zynischen und abgründigen „Helden der Gegenwart“ mit Mut zum unreglementierten Denken. Sondern um genuine Shitbürger, die – nicht anders als viele der wir-sprechenden, demokratieumsorgten Kampagnenankläger – ein moralistisches Heinzelmännchentheater aufführten.
Was auf der Strecke bleibt
Nicht nur lag der gesamten Debatte von Beginn an das Ziel zugrunde, Brosius-Gersdorf zu canceln – was nichts anderes bedeutet, als dass der Aktivismusvorwurf selbst aktivistisch motiviert war, während man nach außen Neutralität vorgab. Der gesamte Wesenskern des Shitbürgers, wie ihn Wallat in komprimierter Form beschreibt, hat sich hier offenbart. Man suchte keine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Juristin, weder direkt noch mit ihren Thesen, mied also die rationale Debatte mit Argumenten und praktizierte so ein autoritäres Sprechverbot. Dabei wäre genau hier der Moment des Antishitbürgers gewesen, weil die Sache, um die es ging, die Ambivalenz schlechthin berührt. Diese Ambivalenz blendete man jedoch aus, indem man so tat, als sei der Beginn der Menschenwürde eine ausgemachte, hygienisch saubere Sache.
Stattdessen inszenierte man – durch Verdrehung ihrer Thesen – eine angebliche Bedrohung des Grundgesetzes durch Brosius-Gersdorf und stellte sich selbst als dessen wahre, treue und gute Verteidigungsgemeinschaft dar. Das ist Moralismus par excellence – und zugleich eine Infantilisierung der Leserschaft. Man bediente lediglich Gemeinschaftsgefühl, diffuses Halbwissen, Ressentiment und die sehr deutsche Angst vor einer Gefährdung von Kindern, statt über das Spannungsverhältnis von Freiheit und Würde aufzuklären.
Dass dieselben Kritiker regelmäßig die AfD-Wähler verteidigen – nicht, weil diese Recht hätten, sondern weil sie zum demokratischen Meinungsspektrum gehörten – entlarvt ihr Vorgehen als das, was es ist: Aktivismus und Haltungsjournalismus gegen jene, die nicht ins eigene Weltbild passen. Nichts anderes also als das, was die „Welt“ „Correctiv“ und dessen in der Tat fragwürdiger Inszenierung des „Geheimplans gegen Deutschland“ vorwarf.
Diese Inkonsequenz in der Verteidigung der Meinungsfreiheit offenbart einen instrumentellen Bezug zur Wahrheit und belegt, dass Brosius-Gersdorf Gegner in einem Kampf um Hegemonie und Diskurshoheit verwickelt sind – einem Kampf, an dem teilzunehmen stets Ausdruck geistigen Provinzialismus’ ist. Gekämpft wird reflexhaft für das, was einem ähnlich ist, damit das eigene Ich um keine Fremdanteile bereichert wird und weiter ungestört auf der Kuhweide seiner Verkümmerung grasen kann.
Das ist nichts anderes als geistige Gebücktheit - der zu gesellschaftlicher „Normalität“ rationalisierten, von angstbedingter Egoabdichtung verursachten Gebrochenheit gegenüber.
So verkörpern die liberal- bis rechtskonservativen Journalisten dieselbe konformistische Rebellion und shitbürgerliche, kulturkämpferische Heuchelei, die auch das progressive Milieu auszeichnen, nur mit anderen Feindbildern. Und wie diese betreiben sie ein Abwrackunternehmen universeller Vernunft. Wie die Progressiven unterminieren sie durch wahnwitzige, konformistische Selbstbezüglichkeit die zivilisatorischen Mindeststandards rationaler Debattenführung, während sie sich als Retter des Abendlandes – von Vernunft, Respekt und Würde – inszenieren.
Sie bekämpfen hiermit letztlich die Bedingungen von Erkenntnis und verkaufen ihren Anspruch auf Diskurshoheit und ihr Eigeninteresse an einer kulturellen Rückkehr der 80er-Jahre – jene Zeit der ungestörten konservativen Miefhegemonie – als Allgemeinwohl.
Was dabei auf der Strecke bleibt: Benehmen. Das freie Wort samt gutem Journalismus. Wahrheit. Und die liberale Gesellschaft.

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