Patrick Viol

Eigeninteresse statt Erkenntnisinteresse

Konservative und rechten Medien skandalisierten, Frauke Brosius-Gersdorfs Thesen zur Menschenwürde griffen das Grundgesetz an. Das stimmt nicht. Teil II einer Analyse eines Skandals, der keiner ist.
Das moral- wie rechtsphilosophische Reflexionen zumutende Potenzial der Menschwerdung.

Das moral- wie rechtsphilosophische Reflexionen zumutende Potenzial der Menschwerdung.

Bild: Adobestock

Ein Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase sollte verfassungsrechtlich legal sein – nicht nur straffrei. Das ist die – nicht radikale, aber streitbare – Forderung der Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht Frauke Brosius-Gersdorf. Ihr – wie auch anderen Befürwortern der Entkriminalisierung von Abtreibungen – geht es nicht um moralische Beliebigkeit, sondern um die Systematik des Grundgesetzes. Also um die innere Logik und das Zusammenspiel der Normen, das durch die widersprüchliche Konstruktion „rechtswidrig, aber straffrei“ belastet sei.

Zwischen dem objektiv-rechtlichen Lebensschutzauftrag des Staates und der subjektiv-rechtlichen Freiheit der Frau entsteht ein doppelter Verfassungsschutz. Er verdrängt die klare Logik der Abwägung, wie es bei Grundrechtskonflikten üblich ist, und ersetzt sie durch komplexe Schutzpflichtsysteme – eine Herausforderung für Rechtsprechung und Gesetzgebung laut Brosius-Gersdorf.

Eine mögliche Kritik

Genau hier hätte eine sachliche und ethisch orientierte Kritik ansetzen können: etwa, dass Brosius-Gersdorf der juristischen Konsistenz des Grundgesetzes mehr Bedeutung beimisst als dem das Gewissen – durchaus widersprüchlich – ansprechenden Ausdruck des moralisch unauflösbaren Konflikts zwischen dem Leben des Embryos und der Selbstbestimmung der Frau.

Man hätte – zugespitzt – sagen können: Ihr ist die Logik des Grundgesetzes wichtiger als die Menschen, die es schützen soll. Eine solche Polemik hätte durchaus ihre Berechtigung gehabt, wenn man damit zugleich die bestehende Regelung als Ausdruck einer tragfähigen ethischen Ambivalenz verteidigt hätte – etwa nach dem Motto: „illegal, aber straffrei“ ist der bestmögliche Ausdruck für die rechts-wie moralphilosophische Reflexionszumutung, dass der Embryo ab der Einnistung potenziell ein Mensch ist.

Diese Verteidigung akzeptiert aber, dass der Staat – als Instanz, die nicht nur zwischen seinen Bürgern, sondern auch deren innere Trennung in Staatsbürger und Privatmensch vermittelt – zur moralischen Selbstbefragung zwingt. (Ob ihm das gelingt, steht auf einem anderen Blatt.) Genau das aber können selbst ernannte „Hardcoreliberale“ aus dem Umfeld der „Welt“ nicht vertreten – denn dann müssten sie eingestehen, dass es so etwas wie kollektiv erzwungene Reifung gibt. Und das wäre ihnen vermutlich zu grün bzw. zu „shitbürgerlich“, wie Ulf Poschardt das „rotgrüne Bildungsbürgertum“ bezeichnet, das seines Erachtens steuerfinanziert die Bürger infantilisiert und umerziehen will. (Nicht von ungefähr hat sich Ulf Poschardt weitgehend aus der Debatte herausgehalten.)

Menschenwürde ab Geburt

Nun, was könnten die „guten Gründe“ für die volle Geltung der Menschenwürde erst ab Geburt sein, die Brosius-Gersdorf Kritiker anscheinend nicht zu kennen scheinen.

Dabei ist wichtig zu betonen: Gute Gründe für die volle Geltung der Menschenwürde ab Geburt schließen nicht aus, dass es auch gute Gründe für eine Menschenwürde ab Empfängnis gibt. Am Ende kommt es aber darauf an, welche unter den gegebenen rechtlichen, moralischen und praktischen gesellschaftlichen Verhältnissen überzeugen.

Gälte die Menschenwürde von Beginn an absolut, dürften schwerwiegende medizinische Gründe oder die Lebensgefahr der Schwangeren juristisch nicht gegen das Würderecht des Embryos abgewogen werden. Das Recht der Frau auf Leben, Unversehrtheit und Selbstbestimmung würde systematisch zurücktreten – mit Folgen z. B. für die ärztliche Praxis. Ärztinnen und Ärzte könnten gezwungen sein, lebensrettende Behandlungen zu unterlassen, wenn sie das Leben des Fötus gefährden. Eine Frau könnte in einem solchen Fall gezwungen werden, sich für ihr Kind zu opfern und sich für ihren Tod zu entscheiden.

Auch Verfahren wie Präimplantationsdiagnostik oder Stammzellforschung wären kaum verfassungsrechtlich haltbar – denn Träger der Menschenwürde dürfen weder selektiert noch instrumentalisiert werden.

Auf diese Probleme wies bereits Bundesverfassungsrichterin Evelin Haas 1993 hin. Weshalb sie es für verfassungsrechtlich vertretbar hielt, die Grundrechtsträgerschaft erst mit der Geburt beginnen zu lassen – wie es § 1 BGB vorsieht. (Und offenbar überlebt das Grundgesetz Richterinnen mit dieser Meinung.)

Es gibt auch starke moralphilosophische Gründe: Die Menschenwürde ist kein biologisches Merkmal, sondern ein rechtsethisches Konstrukt. Sie basiert auf einem bestimmten Menschenbild, moralischer Selbstbestimmung, Sprache und intersubjektiver Anerkennung.

Eine hypothetische Embryonengesellschaft könnte niemandem Würde zusprechen. Wer die Würde zur bloßen Eigenschaft des Menschseins erklärt, höhlt ihren normativen Kern aus: dass sie kein Status, sondern eine Schutzaufgabe ist. Gerade in Konfliktlagen droht dann eine paradoxe Wirkung: Die Menschenwürde schützt nicht die Schwächsten – sie wird zur Waffe gegen jene, die moralische Verantwortung tragen müssen: die Schwangeren.

Vorstellbar wären nämlich auch strafrechtliche Konsequenzen: Eine Frau, die während der Schwangerschaft nicht auf ihre Gesundheit achtet, müsste bei absoluter Menschenwürde ab Einnistung konsequenterweise strafrechtlich verfolgt werden. Womit nicht zuletzt eine Argumentationsgrundlage dafür geschaffen würde, dass der Körper der Frauen ab Schwangerschaft dem Staat gehören sollte bzw. überwacht werden müsste. Atwoods dystopischer Roman „Report der Magd“ lässt grüßen bzw. ein durch die Ausweitung der Menschenwürde ins Totalitäre driftender Staat.

Menschenwürde ab Einnistung

Vertreter des absoluten Lebensschutzes argumentieren, Würde dürfe nicht an Autonomie, Rationalität oder Geborensein geknüpft werden. Andernfalls könnten auch andere verletzliche Gruppen – Menschen mit Behinderung, Komapatienten, Hochbetagte – aus dem Schutz herausfallen. Der Nationalsozialismus sei warnendes Beispiel. Das Problem hier: Embryonen erhalten keine Hilfe wie Kranke, Menschen mit Beeinträchtigungen oder Pflegebedürftige. Sie sind Teil eines leiblichen Gesamtzusammenhangs, in dem sich der Embryo durch die Reproduktion der Mutter hindurch zur Trennung fortentwickelt. Das ist ein Unterschied.

Dessen ungeachtet wird an dieses Argument nicht selten die Forderung gehängt, dass die ethische Anerkennung der Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens und der Würde des Embryos nicht nur das Kind schützen, sondern eine Haltung im Gemeinwesen prägen soll: dass wehrlose und verletzliche Wesen geschützt werden. Und das anschließende Argument ist: Gerade weil das ungeborene Leben wehrlos sei, habe der Staat hier einen besonders hohen Schutzauftrag, der nur dann ausreichend erfüllt werde, wenn das Leben ab Zeugung als Träger von Menschenwürde anerkannt wird.

Eine weitere Argumentation hebt darauf ab, dass die Entwicklung vom Embryo zur Geburt ein kontinuierlicher Prozess ohne definierbaren Qualitätssprung sei. Die Geburt als Zeitpunkt der vollen Menschenwürde zu wählen, sei daher ethisch willkürlich. Dieses Argument wird auch von manchen Medizinern vorgebracht, dem andere damit widersprechen, dass es sehr wohl einen Qualitätssprung in der Entwicklung des Embryos gebe – den Übergang zur extrauterinen „Viabilität“. Diese bezeichnet das Stadium, ab dem ein Fötus selbstständig – also ohne den Körper der Mutter – überleben könnte, weshalb es für die Lösung des Konflikts zwischen den Rechten der Mutter und dem Kind ethisch relevant ist.

Unauflösbar – und darum zumutbar

In dem existierenden gesellschaftlichen Rahmen der liberalen Gesellschaft sind die Argumente gegen eine uneingeschränkte Menschenwürde ab der Einnistung die stärkeren. Sie überzeugen, weil sie rechtlich praktikabel, philosophisch differenziert und ethisch konfliktfähig sind: Sie nehmen das Spannungsverhältnis zwischen dem Schutz ungeborenen Lebens und der Selbstbestimmung der Schwangeren ernst, ohne eines gegen das andere absolut zu setzen. Während die Befürworter der Menschenwürde ab Zeugung lediglich moralische Intuitionen bemühen und Forderungen aufstellen, zeigen die Gegenpositionen klar, dass eine solche Zuschreibung in letzter Konsequenz zu repressiven Maßnahmen führen müsste – etwa zur Überwachung oder Strafverfolgung von Schwangeren.

Eine versäumte Diskussion

Doch diese stärkeren Gegenargumente lösen das moralische Problem nicht auf: Mit der Einnistung beginnt unbestritten ein biologischer Prozess mit dem Potenzial zur Menschwerdung. Dieses Potenzial ist nicht irrelevant – es begründet Achtung, auch wenn es keine Gleichsetzung mit einer geborenen Person rechtfertigt.
Gerade deshalb ist die bestehende Regelung – Abtreibung ist rechtswidrig, aber unter bestimmten Bedingungen straffrei – so tragfähig. Sie bringt den tragischen Ernst der Menschwerdung zum Ausdruck: Das werdende Leben hat Schutzanspruch, aber nicht um den Preis der Entmündigung der Frau. So wahrt das Gesetz sowohl die moralische Bedeutung des embryonalen Lebens als auch die Verantwortungsfähigkeit und Freiheit der Schwangeren – mutet statt staatlichem Zwang aber eine Gewissensentscheidung zu.
Vor diesem Hintergrund hätte man die Forderung von Brosius-Gersorf diskutieren können bzw. müssen – wollte man guten Journalismus betreiben, dem es um die Wahrheit und die ihn ermöglichende liberale Gesellschaft und nicht um Aktivismus geht. Stattdessen setzten ihre Kritiker auf moralische Empörung und Verunglimpfung und bespielten Ressentiments und Halbwissen. Mit Erfolg: Brosius-Gersdorf hat am vergangenen Donnerstag ihre Kandidatur zurückgezogen.

Warum dieses Vorgehen sich kaum von den Cancel-Mustern unterscheidet, die man sonst an „linke Haltungsjournalisten“ delegiert, lesen Sie im nächsten Teil.


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