Patrick Viol

Eigeninteresse statt Erkenntnisinteresse

Konservative und rechten Medien skandalisierten, Frauke Brosius-Gersdorfs Thesen zur Menschenwürde griffen das Grundgesetz an. Das stimmt nicht. Teil I einer Analyse eines Skandals, der keiner ist.

Das Bundesverfassungsgericht erkennt das ungeborene Leben von der Empfängnis an als eigenständiges, vom Grundgesetz geschütztes Rechtsgut an. Doch die Menschenwürde gilt für es nicht absolut.

Das Bundesverfassungsgericht erkennt das ungeborene Leben von der Empfängnis an als eigenständiges, vom Grundgesetz geschütztes Rechtsgut an. Doch die Menschenwürde gilt für es nicht absolut.

Bild: Adobestock

Guter Journalismus schreibt, was der Fall ist: was belegt ist und was sich überprüfen lässt. Er ordnet ein, weist auf Unbelegtes hin und macht Widersprüche sichtbar. Sehr guter Journalismus geht darüber hinaus – er bringt ans Licht, was verborgen bleiben soll.

Ein sehr guter Journalist trennt außerdem Beobachtung und Meinung. Und er vermag Letztere sprachlich präzise und pointiert auszudrücken. Im besten Fall kommt er zu einem Urteil, das die subjektive Meinung objektiviert.

Schlechte Journalisten fallen durch Auslassungen, Verkürzungen und Sachunkenntnis auf. Auch Verleumdung ist dabei nicht selten. Sofern diese Qualitätsmängel auf eine Haltung zurückgehen – sei es eine politische Agenda oder narzisstische Selbstbestätigung – spricht man von „Haltungsjournalismus“. Schreibender Aktivismus trifft es noch besser.

Hier überwiegt das Eigeninteresse das Erkenntnisinteresse. Und Ersteres wird als Letzteres getarnt. Die Realität wird so zurechtgelegt, wie man sie braucht. Der Bezug zur Wahrheit ist nicht absolut, sondern instrumentell.

 

Der Fall Brosius-Gersdorf

Als Aktivistin kritisiert, und zwar als linksradikale, wurde die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf, SPD-Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht. Genannt wurde sie so in der „Welt“ und von Formaten wie „Nius“, „Apollo“ und „Tichys Einblick“. Ob diese verdächtige Einhelligkeit nun Ausdruck einer konzertierten Aktion gewesen ist oder nicht – darum soll es hier nicht gehen. Ich möchte stattdessen einen Einblick in das schwierige moralphilosophische wie verfassungsrechtliche Verhältnis von Menschenwürde und ungeborenem Leben geben, das in der Berichterstattung völlig ausgeblendet wurde, obwohl das Thema für die Aufregung sorgte. Und ich will zeigen, was der von dieser Auslassung bestimmte Umgang mit Brosius-Gersdorf über die Qualität des Journalismus ihrer Kritiker aussagt.

 

Von der FAZ zur Empörungsschleife

Im Zentrum steht der Vorwurf, Brosius-Gersdorf spreche ungeborenem Leben die Menschenwürde ab. Julian Reichelt (Nius) nennt sie deswegen eine „linksradikale Aktivistin“.

Es begann mit einem einigermaßen sachlichen Bericht in der FAZ am 30. Juni. Der stellte dar, dass Brosius-Gersdorf es für möglich hält, den Abtreibungsparagrafen aus dem Strafgesetzbuch zu streichen – was der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts widerspricht. Die Begründung dieser Möglichkeit jedoch ließ die FAZ unerwähnt.

Einen Tag später titelte ApolloNews: „Impfpflicht, Grundgesetz gendern, AfD verbieten – dafür steht die Kandidatin für das Verfassungsgericht.“ Den Beitrag teilte Julian Reichelt (auf X und kommentierte: „Muss verhindert werden.“

 

Im Social-Media-Hate-Village

Nach Brosius-Gersdorfs Auftritt bei Lanz, wo sie erklärte, bei hinreichendem belastbaren Material für einen Verbotsantrag gegen die AfD zu sein – mit dem Zusatz, ein Verbot beseitige aber nicht die Anhängerschaft – fragte die FAZ: „Wie links darf eine Verfassungsrichterin sein?“ Brosius-Gersdorf meinte mit dieser Bemerkung keine „Elimination der AfD-Wähler“, sondern verwies – wie viele andere linke und konservative Kritiker der AfD – auf den Umstand, dass ein Parteiverbot gesellschaftliche Ursachen und Überzeugungen der AfD-Wählerschaft nicht beseitige.

Für die „Welt“ war das aber offenbar zu viel und so stieg sie in die Diskussion ein – mit Don Alphonso als Chefankläger. In einem weiteren FAZ-Artikel ließen sich anonyme Unionsabgeordnete mit dem Vorwurf, Brosius-Gersdorf sei „lebenskritisch“ zitieren – ohne kritische Einordnung. Stattdessen wurde deren Haltung gestützt, indem die FAZ auf einen Satz im von Brosius-Gersdorf verantworteten Bericht der Ampel-Kommission zum Schwangerschaftsabbruch verwies. Dort steht, dass es gute Gründe gebe, die Menschenwürde erst ab Geburt gelten zu lassen. Diese Gründe listet der Bericht nicht auf – und die FAZ holte sie nicht ein. Sie merkte nur an, dass diese Sicht dem geltenden Recht widerspricht.

So begann die Debatte um Brosius-Gersdorfs Haltung zu Abtreibung und Menschenwürde – bzw. die Hetzjagd durch das Social-Media-Hate-Village. Im Zuge der Skandalisierung des grundrechtsfeindlich gerahmten, verkürzten Satzes aus dem Kommissionsbericht erhielten Brosius-Gersdorf und ihre Mitarbeiter Morddrohungen. Und Datenauswertungen zeigen, dass vor allem das Thema Abtreibung trendete. Beatrix von Storch behauptete reichweitenstark, Brosius-Gersdorf wolle Abtreibungen bis zum 9. Monat erlauben. Julian Reichelt sagte: „Wenn die Grundrechte jemals in die Hände dieser Frau fallen, dann existieren unsere Grundrechte nicht mehr so, wie sie dort stehen im Grundgesetz.“ Larissa Fußer von „Apollo“ ergänzte, Brosius-Gersdorf greife „unser Grundverständnis der Menschenwürde im Grundgesetz“ an.

Die Lebensschützer Plattform „1000plus“ forderte dazu auf, Unionsabgeordneten zu schreiben, die Wahl von Brosius-Gersdorf zu verhindern. Die Plattform CitizenGo starte eine Petitionskampagne. Es wurden schließlich über 36.000 Mails verfasst und 140.000 Unterschriften gesammelt.

Und der Bamberger Erzbischof Gössl sprach gar von einem „Abgrund der Intoleranz“, der sich auftue, sollte sich die „Abkehr von Gott“ durchsetzen, die sich in der Haltung Brosius-Gersdorfs zeige. Nach einem Telefonat mit der Juristin bedauerte er diese Formulierung jedoch öffentlich.

Dennoch: die Wahl wurde am 11. Juli von der Union von der Tagesordnung des Bundestages genommen.

 

Was das Verfassungsgericht wirklich sagt

Ein Gespräch wie der Erzbischof suchten die übrigen Kritiker nicht. Sie zeigten keinerlei Interesse an der rechtlichen Differenzierung des sehr wohl bekannten Grundrechtskonflikts zwischen dem Schutz des Lebensrechts und den Rechten der Frau. Die will ich nun nachholen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil von 1975 das ungeborene Leben von der Empfängnis an als eigenständiges, vom Grundgesetz geschütztes Rechtsgut anerkannt. Der Staat sei verpflichtet, dieses Leben zu schützen – auch mit Mitteln des Strafrechts. 1993 ließ das Gericht im Hinblick auf den Schwangerschaftsabbruch eine sogenannte Fristenlösung mit Beratungspflicht zu. Voraussetzung: Ein wirksames Schutzkonzept zur Erhaltung des ungeborenen Lebens. Zwar sei die Menschenwürde des Embryos nicht absolut zu verstehen, doch dürfe der Staat seine Schutzpflicht nicht vernachlässigen.

2010 bekräftigte das Gericht diesen Schutz auch im Kontext der Reproduktionsmedizin. Der Embryo sei von Anfang an menschliches Leben – aber kein Grundrechtsträger im Sinne des Grundgesetzes.

 

Ein gestuftes Schutzkonzept – mit Spielräumen

Das bedeutet: Das Bundesverfassungsgericht erkennt keine absolute Menschenwürde des Embryos an und verpflichtet den Staat zu einem gestuften Schutzkonzept. Daraus folgt: Regelungen, die den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch an die Entwicklungsphasen des Embryos knüpfen, sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

Brosius-Gersdorfs Position bewegt sich innerhalb dieses Rahmens. Sie verhandelt den Güterkonflikt zwischen dem Lebensrecht des Embryos und den Grundrechten der Frau und versucht einen Ausweg aufzuzeigen. Sie argumentiert auf Grundlage der bisherigen Rechtssprechung: Lebensrecht und Selbstbestimmung lassen sich nicht in allen Phasen der Schwangerschaft gleich gewichten. In der Frühphase überwiege das Selbstbestimmungsrecht der Frau, in der Spätphase erhalte das Lebensrecht des Embryos größeres Gewicht. Solche Regelungen gelten auch anderswo – etwa im katholischen Irland.

Was Brosius-Gersdorf im Gegensatz zur geltenden Rechtslage fordert, ist dies: Ein Schwangerschaftsabbruch in der Frühphase sollte verfassungsrechtlich legal sein – nicht nur straffrei. Um der „Systematik des Grundgesetzes“ willen.

Lesen Sie in der nächsten Ausgabe den zweiten Teil, in dem es um die Argumente für und gegen eine absolute Menschenwürde des Embryos geht und um die Beantwortung der Frage, warum Brosius-Gersdorfs Angreifer linksradikalen Aktivisten näher sind als die Juristin.


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