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Patrick Viol

Drängeln gegen den Stillstand der Welt

Was das Vorbei- und Vordrängeln an Desinfektionsmittelspendern und an Schlangen an Supermarktkassen über den Zustand der Welt verrät.

Corona hat so einige gesellschaftliche Problemhotspots in neonrotgrelles Licht gerückt, wie z. B. die schlechte Situation in der Pflege oder die mangelnde Gleichberechtigung bei der Kinderbetreuung. Entsprechend laut war und ist die Kritik an denen „da oben“. Lohnend, weil die lahmen Mühlen der Selbstreflexion antreibend, ist aber hin und wieder auch ein Blick auf die sogenannten „Leute“, sprich: auf uns selbst. Auf jene, die nicht viel zu melden haben. Denn die Pandemie, bzw. deren Distanz erfordernden Abwehrmaßnahmen wie Abstandhalten und Maskenpflicht beleuchten auch die Schattenseiten unseres täglichen Sozialverhaltens. Corona ist sozusagen der 500 Watt Halogenstrahler, der die Unzulänglichkeiten in unserem Umgang miteinander in ihrer ganzen Hässlichkeit erstrahlen lässt. Und damit meine ich nicht das Gebaren jener, deren Meise sich in ihren Köpfen durch die Pandemie in einen Hirn zerhackenden Specht verwandelt hat, und die deshalb wöchentlich einem vegan kochenden Faschisten in Berlin zujubeln, wenn er Morddrohungen verkündet. Nein, ich meine die alltäglichen, meist unbewussten Verhaltenszüge in der Öffentlichkeit. Jene, die es zwar vor der Pandemie schon gab, aber aufgrund der Hygieneregeln einem permanent ins Auge fallen.
Ich spreche vom Vorbei- und Vordrängeln. Sei‘s - ironischerweise - am Desinfektionsmittelspender im Fitnessstudio, sei‘s an der Schlange an der Supermarktkasse, entweder von hinten, weil man nur „was Kleines“ hat, oder - noch besser - entgegen der Reihenrichtung in den Laden hinein. Oder - auch richtig super - der Unwille, vor einer engen Gasse der entgegenkommenden Person den Vortritt zu gewähren, um sich nicht zu nah kommen zu müssen oder Fahrgäste in Ruhe aus öffentlichen Verkehrsmitteln aussteigen zu lassen. Überall ballern die Leute auf einen zu oder drängeln sich an einem vorbei, und wenn man was sagt, wird man angeschnauzt. Als ob man die drängelnde Person bei einer wichtigen Mission unnötig aufhalten wollte. Die sie natürlich nicht verfolgen. Was also ist das Problem des Drängelcharakters? Was treibt ihn permanent an?
Augenscheinlich drücken sich im Drängeln eine Unfähigkeit zu warten aus, das heißt eine Unzulänglichkeit, an ein und derselben Stelle zu verharren, und der Wille, egal bei was auch immer, der Erste sein zu wollen. Diese Verschränkung von Unfähigkeit und vorpreschendem Willen resultiert natürlich aus der allgemeinen Konkurrenzanforderung, der wir von klein auf unterliegen. Aber - und das ist das Entscheidende - nicht in dem Sinne, dass das Drängeln nur ein Ausdruck der Anpassung an sie wäre. Diese Erklärung drängelte sich an der eigentlichen Ursache des Drängelns vorbei und hätte selbst etwas Rücksichtsloses: Man betrachtete die Menschen damit lediglich als Anpassungsmonster an gesellschaftliche Zwänge. Damit übersähe man, dass Menschen auch an ihnen leiden und mit ihrem fragwürdigem Verhalten unbewusst und ersatzweise gegen ihr Leid rebellieren. Worunter leidet also der Drängler bzw. wogegen rebelliert das Drängeln?
Der Drängelcharakter knappst an der Erfahrung, dass jedes individuelle Fortschreiten in unserer Gesellschaft das dumpfe Gefühl begleitet, auf der Stelle zu treten.
Diese Verschränkung von Stillstand und Dynamik kann im Übrigen auch das Verhalten von Menschen wie dem flüchtigen Ex-Wirecard-Vorstand erklären helfen. Warum sonst sollte man immer weiter machen, wenn man nicht das Gefühl hätte, dass man nichts erreicht hat? Das Gefühl des Stillstandes im steten Voranschreiten kommt zum einen daher, dass die Zwecke, die das Fortschreiten anheizen, nicht die eigenen, sondern fremde: die des Marktes sind, die man aber, will man nicht untergehen, verfolgen muss. Dass z. B. der jetzt vom europäischen Parlament gekippte europäische Rettungsschirm gerade die Mittel reduziert, die den vitalen Interessen der Menschen am nächsten kommen: Bildung, Klimaschutz, Gesundheit, ist augenscheinlichster Ausdruck davon, dass die Zwecke, die die Menschen verfolgen, nicht ihre sind. Und - das zum anderen - weil die verfolgten Zwecke nicht die der Menschen sind, ändert sich an den Problemen auch nichts, mit denen sie täglich mehr oder weniger zu kämpfen haben. Die kapitalistische Dynamik lässt die Welt für die Menschen erstarren. Dieses Schicksal schießt dem Drängler als Ungeduld dumpf in die Beine, wenn er in der Schlange stehen, vor einem Desinfektionsmittelspender, einer Gasse oder den ÖPNV warten muss. Das Drängeln ist der ohnmächtige und unbewusste Fluchtversuch, dem gesellschaftlichen Schicksal zu entkommen: Andere, die stehen, zu überholen oder wegzudrängeln ist der kleine, biestige Sieg in der allgemeinen Erstarrung; eine aufmüpfige Ersatzhandlung. Drängeln ist Ausdruck und Abwehr einer Welt, in der alles permanent fortschreitet, nur sie selbst bis heute nicht.


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