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Leser

Brief an die Redaktion: "Krieg ist nicht fortschrittlich"

Es folgt ein Leserbrief zum Kommentar „Russland als Gegner erkennen“ von Patrick Viol und Toni Oswald, erschienen in der Nr. 3.
 

Hallo Herr Viol,
bislang hatte ich mich immer auf Ihre Beiträge und Kommentare im Anzeiger gefreut. Am letzten Sonntag haben Sie mir den Tag verdorben. Wenn Jörg-Helge Wagner das geschrieben hätte, wäre ich nicht verwundert. Aber Sie??
 Was die Genesis des Ukraine-Konfliktes anbelangt, so beziehe ich mich der Einfachheit halber auf den WK Seite 3 vom 24.1. 22. Der vom "Westen" finanziell und politisch unterstützte Maidan-Putsch lehnte den Plan Polens, Frankreichs und Deutschlands zu einem demokratischen Übergang und freien Wahlen ab. Die gewählte Regierung wurde abgesetzt. Die Teile des Landes, die an dem Staatsstreich nicht teilnahmen, wurden fortan von uns als "Separatisten" bezeichnet. Das Völkerrecht kennt aber keinen Zwang zur Teilnahme an einem Staatsstreich. Separatisten sind also rechtlich die Anderen.
Die Annektierung der Krim ist ohne Frage formal völkerrechtswidrig. Zwar fand eine Volksabstimmung mit eindeutigem Ergebnis für den Anschluss an Russland statt, die hätte aber der Zustimmung der Ukraine bedurft. Die wurde aber gar nicht gefragt. Daraus eine Aggression Russlands abzuleiten ist unredlich. Ob die Krim überhaupt völkerrechtlich Bestandteil der Ukraine war, ist im Übrigen nach Ansicht der englischen Historikerin Gwendolyn Sasse von der Universität Oxford streitig. (Beitrag aus der WELT vom10.3.14). Das ist aber nicht der Punkt. Der "Westen" kann sich aber auf die vermutliche Illegalität des Referendums wohl kaum berufen, nachdem die Nato-Staaten in exakt der gleichen Weise die Abspaltung des Kosovo von Serbien durchgeführt haben. Auch hier gab es weder eine Zustimmung Serbiens, noch eine internationale Kontrolle. Das gleiche gilt für die russische Unterstützung der "Separatisten" in Donezk und Lugansk. Die Verträge im Normandie-Format vom 12. 2.2015 sahen vor, dass die Gebiete eine weitgehende Autonomie erhalten. Das ist bis heute nicht geschehen. Mehrere Initiativen auf Umsetzung der Vereinbarung Minsk II scheiterten an der Ukraine. Hier wieder anzusetzen ist die Voraussetzung für die Lösung des Konfliktes und wenn die deutsche Außenpolitik das tut, ist das zu begrüßen. Kriegsgeschrei nützt gar nichts.
Wenn die Flamen in Belgien einen Staatsstreich durchführen würden und beschließen, dass die Walonen zukünftig nicht mehr Französisch sprechen dürfen, würde Frankreich vermutlich nicht untätig bleiben. Die schlichte Unterdrückung eines Teiles der Bevölkerung kann keinen Frieden bringen. Dazu brauchen wir nicht in die Ukraine zu schauen. Fakt ist doch, dass die Nato sich seit dem Ende der Sowjetunion immer mehr nach Osten ausweitet und versucht Russland einzukreisen. Darauf will sie auch zukünftig nicht verzichten. Ist das Ihr Beleg für das "zunehmend aggressiver auftretende Russland"? Und: Wieso liefert die Pipeline die osteuropäischen Staaten an Russland aus?
Vollends vergaloppiert haben Sie sich dann bei den Ausführungen zum "tradierten Antimilitarismus der Grünen" und der SPD. Schön wär´s. Haben sie vergessen, dass es genau diese beiden Parteien waren, die Deutschland in den ersten Angriffskrieg nach 1945 geschickt haben? Joschka Fischer verglich Sebrenica mit Auschwitz und verharmloste damit die Schoa. Es war die Nato, die den Sender des Serbischen Rundfunks bombardierte, um die Stimme gegen den unstreitig völkerrechtswidrigen Krieg der Nato zum Schweigen zu bringen. (2015 waren dann die gleichen Länder nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo alle für die freie Meinungsäußerung und Toleranz auch gegen Andersdenkende.) Tatsächlich ist doch der Krieg das größte denkbare Umweltverbrechen und Ursache für Tod, Leid, Zerstörung, Flucht und Vertreibung. Wie können Sie dem das Wort reden? Krieg ist ein Verbrechen und kein Mittel der Politik. Die Rüstungsausgaben der Nato-Staaten belaufen sich auf über 1.000 Milliarden Dollar jährlich und übersteigen die Ausgaben Russlands um das 16fache. Und Sie fordern, dass noch mehr Geld in den Krieg und seine Vorbereitung investiert wird?
Ich hatte in der Vergangenheit nach der Lektüre Ihrer Kommentare den Eindruck, dass Sie fortschrittliche Positionen vertreten. Krieg ist nicht fortschrittlich. Ich bin gerne bereit, mit Ihnen über dies Thema ein ruhiges Gespräch zu führen, wenn Sie daran Interesse und dafür Zeit haben. Rufen Sie mich gerne an.
Mit freundlichen Grüßen
Hans Schulze-Eickenbusch
 
Briefe an die Reaktion sind keine redaktionellen Beiträge, sondern stellen Meinungen der namentlich genannten Verfasser:innen dar. Die Redaktion behält sich das Recht vor, Leserbriefe zu kürzen und Grammatik wie Zeichensetzung im Original zu belassen. Anonyme Zuschriften werden nicht veröffentlicht.


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