Lena Stehr

Die bessere Version meiner Selbst kann mich mal

Weihnachtliche Gedanken zum Selbstoptimierungswahn.

Es ist der Donnerstag vor Heiligabend, ich sitze in der Redaktion und muss kreativ sein. Schließlich soll meine Weihnachtsgeschichte heute noch fertig werden. Moment, jetzt klingelt das Telefon. Jemand fragt, ob seine Mail angekommen ist.

So, da bin ich wieder. Ah Moment, ich muss kurz der Volontärin etwas erklären. Sie kümmert sich gerade um unsere Weihnachtsseiten. Sie überlegt, welche Geschichten von unseren Leserinnen und Lesern auf welche Seite kommen, welche Bilder dazu gestellt werden sollen und macht alles fertig. Das ist nicht so leicht, wenn man es vorher noch nie gemacht hat. Auch wenn man es vielleicht nicht sieht - es steckt viel Arbeit in jeder einzelnen Zeitungsseite.

Aber darüber wollte ich ja gar nicht schreiben. Ich will etwas zum Thema Selbstoptimierung schreiben, eigentlich eher zum Selbstoptimierungswahn, der gefühlt immer stärker umgeht und anscheinend immer mehr zum Problem wird, weil er viele Menschen zunehmend unter Druck setzt und/oder zu astreinen Egozentrikern macht, die nur noch um sich selbst kreisen.

Aber erstmal hol ich mir was zu trinken. Auf dem Weg in die Küche werde ich in ein Gespräch mit einer Kollegin verwickelt, die mein Rezept für Eierlikör haben möchte. Den verschenk ich gern an meine Eltern.

So, jetzt aber: Trendforschende bezeichnen das 21. Jahrhundert als „Zeitalter der Selbstoptimierung“, Soziologinnen und Soziologen sprechen gar von ganzen Selbstoptimierungsgesellschaften, in denen alle das Beste aus sich und dem eigenen Leben machen sollen.

Nicht optimal ist, dass ich abgelenkt bin, weil meine Kollegin über einen freilaufenden Hund spricht, der einem unserer Austräger Angst macht. Die Hundebesitzer haben sich beschwert, weil sie keinen Anzeiger mehr bekommen. Sie sagen, dass der Hund nichts tut und der Austräger bitte trotzdem die Zeitung zustellen soll. Streit scheint programmiert. Meine Kollegin fragt, warum es kurz vor Weihnachten nicht besinnlicher zugehen kann.

Wo war ich? Ach ja, Selbstoptimierung. Puh, wie mach ich weiter? Schreibblockade. Ich weiß nicht, wie ich das, was ich rüber bringen will, am Besten aufbauen soll. Außerdem denke ich gerade darüber nach, was ich alles noch erledigen und einkaufen muss, bevor die Gäste an Heiligabend kommen - es soll ja alles „optimal“ laufen. Laut Duden-Definition „(unter den gegebenen Voraussetzungen, im Hinblick auf ein zu erreichendes Ziel) bestmöglich; so günstig wie nur möglich."

Hinzu kommt noch, dass ich aufgeregt bin, weil ich das erste Mal den Weihnachtsmann spiele. Meine neunjährige Tochter - die schon nicht mehr an den „echten“ Weihnachtsmann glaubt - ist eingeweiht und freut sich schon. Aber was ist, wenn ich es nicht gut genug mache? Wenn sie enttäuscht ist von meiner nicht optimalen Performance? Wenn mein Bart verrutscht oder mein unechter Bauch?

Oh Moment, kurz nachdem ich in der Insta-Story einer Freundin gelesen habe, dass sie auf dem Weg zur besten Version ihrer Selbst in einer „higherself“-App meditiert hat, stoße ich bei meinen Recherchen zum Thema Selbstoptimierungswahn auf etwas Inspirierendes. Wir seien ständig damit beschäftigt uns weiterzuentwickeln – statt einfach mal zu genießen, wer wir sind. Cool. Vielleicht sollte ich einfach mal genießen, wer ich gerade bin. Eine leicht gestresste Redakteurin mit Schreibblockade, die es nicht auf die Reihe bekommt, die Geschichte zu schreiben, die sie eigentlich schreiben wollte. Und die mit Sicherheit auch nicht den optimalen Weihnachtsmann spielen oder das perfekte Weihnachtsdinner servieren wird.

Ein optimal-schmissiger Ausstieg aus diesem Text mit Aha-Effekt fällt mir jetzt grad übrigens auch nicht ein. Ich bitte um Verzeihung und genieße einfach weiter meine Unzulänglichkeit. Sch... auf Weiterentwicklung und „higherself“.

 

Frohe Weihnachten wünscht Lena Stehr


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