„Wenigstens eine Seite vertraut mir“
Sechs Jahrzehnte Schröder bedeuten: deutscher Winterhilfswerk-Keynesianismus und Friedenskanzler von Putins Gnaden, Agenda 2010 und Abhängigkeit von Russland. - Zweiter Teil eines kritischen Essays zum politischen Vermächtnis des Altkanzlers.
Am 27. Oktober wird Gerhard Schröder wegen seiner 60-jährigen Parteimitgliedschaft von den Sozialdemokraten geehrt. Nach einem gescheiterten Parteiausschlussverfahren wird er nun wie jedes andere SPD-Mitglied behandelt und mit Anstecknadel und Beurkundung für sein Schaffenswerk von seinem alten hannoveraner SPD-Bezirk gewürdigt.
Neben der Agenda 2010 und dem mit ihr einhergehenden Konkurrenzkampf unter den Deklassierten hat Altkanzler Gerhard Schröder die Weichen für eine Energie- und Außenpolitik auf Kosten der sich nach Westen orientierenden ehemaligen Ostblock-Staaten gestellt und so mindestens passiv dem russischen Neozarismus zugearbeitet. Bereits wenige Monate nach der verlorenen Bundestagswahl am 18. September 2005 gab Schröder bekannt, dass er fortan für den russischen Erdgaskonzern Gazprom arbeiten wird. Das legt zumindest den Verdacht nahe, dass die Verhandlungen über seine neue Position bereits während seiner Kanzlerschaft geführt wurden.
Der Wirtschaftslobbyist
Seinen Duzfreund Putin nannte er einst einen „lupenreinen Demokraten“ und verteidigte ihn gegen den Vorwurf, die Wahlen nach der zweiten Invasion in Tschetschenien zu Russlands Gunsten manipuliert zu haben. In den letzten 17 Jahren sicherte sich Schröder etliche einflussreiche und repräsentative Posten als Wirtschaftslobbyist in Russland. Zudem war er direkt in das Nord Stream Pipeline Projekt involviert, für das er als Vermittler zwischen Russland und dem Westen fungierte. 2017 wurde er in den Aufsichtsrat von Rosneft gewählt. Ein Konzern, der sich seit der Krim-Annexion 2014 auf der EU-Sanktionsliste befindet. Die Krim-Annexion reichte allerdings ebenso wenig wie der brutale Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 dafür aus, dass Schröder dem russischen Despoten die Freundschaft aufkündigte. Stattdessen gab es halbherzige Distanzierungen samt der nachgeschobenen Relativierung, dass beide Seiten Verantwortung für die Eskalation des Konflikts trügen. Zudem behauptete Schröder, dass Putin an schnellen Friedensverhandlungen und einem Ende des Krieges interessiert sei. Dass beides zu einem territorialen Nachteil der Ukraine verlaufen würde, war Schröder gleichgültig.
Die sozialdemokratischen Russland-Versteher
Doch die Zuarbeit zum russischen Imperialismus ist nicht Schröders alleiniges Vermächtnis. Das Prinzip der privilegierten Freundschaft mit Russland wurde von weiten Teilen seiner Partei 17 Jahre lang mitgetragen und weiter ausgeformt. Unter den Schlagwörtern Dialog und Zusammenarbeit hat Schröder eine Russlandpolitik auf den Weg gebracht, der eine - dringend einzufordernde - Osteuropapolitik sich stets unterzuordnen hatte und deren außenpolitischer Kern ein wirtschaftliches und vor allem energiepolitisches Interesse war.
Schröder, dem - laut eines Wiwo Berichtes von 2018 - als autokratisch gebrandmarkte Investoren immer noch lieber sind als „amerikanische Heuschrecken“, forcierte dabei eine Politik der Neutralisierung Deutschlands in Europa, vor allem im Hinblick auf die transatlantische Partnerschaft. Ein Programm, dem der ehemalige Bundespräsident, Vizekanzler und zweimalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier nichts entgegen zu setzten hatte und der seinerseits mit dem Kurs der „Annäherung durch Verflechtung“ die deutsch-russische Partnerschaft weiter intensivierte und medienwirksam mit dem russischen Außenminister Lawrow herumkumpelte.
Auch der ehemalige SPD-Vizekanzler Sigmar Gabriel gab keine bessere Figur ab. Er war einer der vehementesten Fürsprecher des Nord-Stream 2 Projektes. Ebenso Olaf Scholz. Jene Pipeline, die von Russland in die deutsche Ostzone führen sollte, wurde vom Bundeskanzler - noch zwei Monate vor dem russischen Überfall auf die Ukraine - allen Ernstes als rein „privatwirtschaftliches Vorhaben“ und „ganz unpolitisch“ bezeichnet. Die unpolitische Realität sah allerdings ein bisschen anders aus: Die Ministerpräsidentin des Landes Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, unterstützte 2021 die Stiftung Klima- und Umweltschutz MV, die - abgesegnet vom mecklenburgerischen Landtag durch Stimmen von SPD, CDU und Linkspartei - einzig ins Leben gerufen wurde, um die Fertigstellung des Gaspipeline-Projektes schnellstmöglich zu gewährleisten und dabei US-Sanktionen zu umgehen. Dabei mahnte sie, „dass Deutschland und Russland auch in schwierigen Zeiten miteinander im Dialog bleiben“ müssen und warb für den sogenannten Russlandtag am 17. Oktober 2021 in Rostock. Dieses Wirtschaftstreffen fand erstmalig 2014 unmittelbar nach der Annexion der Krim statt und wurde von der damaligen sozialdemokratischen Landesregierung mit initiiert. Hier hielt kein Geringerer als der Altkanzler persönlich eine der Hauptreden, in der er schamlos verkündete: „Ich bin ein Russland-Versteher.“
Ein starkes Stück Sozialdemokratie
Auch wenn Lars Klingbeil anlässlich Schröders geplanter Ehrzeremonie am 27. Oktober abermals die Diskrepanz zwischen Schröders politischem Fortwirken und der Politik der Parteibasis betont, steckt in Schröders vergangener Politik und fortlaufenden Äußerungen ein starkes Stück deutscher Sozialdemokratie: Winterhilfswerk-Keynesianismus und Appeasementpolitk gegenüber Autokraten unter dem Deckmantel der Völkerverständigung und der Rolle Deutschlands als ehrlichem Makler. - Das sind seit jeher feste Bestandteile des sozialdemokratisch gewachsenes Ungetüms. (Die Verstrickung der niedersächsischen SPD mit den Mullahs im Iran bildet dafür ein weiteres Beispiel.) Ein Umstand, den Olaf Scholz auch durch seine 180 Grad Wendung nicht so einfach aus der Welt schaffen konnte, nachdem ihm klar wurde, dass die Ukraine den Krieg nicht binnen kürzester Zeit verlieren wird und man sich gezwungen sah, seine Segel wieder gen Westen zu streichen.