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„Viele arbeiten permanent am Limit“

Interview zu den Arbeitsbedingungen für Ärzte und Ärztinnen in kommunalen Kliniken.

Niedersachsen. Fünf Tarifrunden und drei Warnstreiks hat es gebraucht, bis der Marburger Bund und die Arbeitgeberverbände eine Einigung über das zukünftige Gehalt von Ärtzen und Ärztinnen in kommunalen Kliniken erzielt haben. Wir haben mit Andreas Hammerschmidt über die Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern gesprochen.

Andreas Hammerschmidt ist zweiter Vorsitzender des Marburger Bunds Niedersachsen. Das Gespräch fand vor der Einigung, die am 24. Mai bekannt wurde, statt.

 

Anzeiger: Welchen Stellenwert nimmt die Gesundheitsgefährdung durch die Arbeit im Krankenhaus bei der Unzufriedenheit der von ihnen vertretenen Arbeitnehmer:innen ein?

 

Hammerschmidt: Die Gefährdung der eigenen Gesundheit trägt maßgeblich zur Unzufriedenheit bei. Viele unserer Mitglieder arbeiten permanent am Limit oder darüber hinaus - und dies nicht vorübergehend, sondern als Dauerzustand. Unter Corona haben sich die Arbeitsbedingungen noch verschärft. In regelmäßigen Befragungen unserer Mitglieder bescheinigen uns unsere niedersächsischen Ärzt*innen, dass sie dauerhaft überlastet sind. Viele müssen mit gesundheitlichen Folgen kämpfen. Die Unzufriedenheit ist hoch: 70 Prozent der Befragten beurteilen ihre Arbeitsbedingungen als „nicht gut“, rund ein Viertel davon sogar als „schlecht“ oder „sehr schlecht“. Die anhaltende Überlastung und Gefährdung beziehungsweise Einschränkung der eigenen Gesundheit und damit auch Lebensqualität ist hierbei – neben beispielsweise dem Mangel an ärztlichen Kolleg*innen - ein ganz entscheidender Faktor.

 

Haben Sie einen Einblick in die Gründe von Krankschreibungen? Wenn ja: Was sind die häufigsten Gründe?

 

Die Überlastung macht auf Dauer krank. Wenn ich in einem belastenden Arbeitsalltag ständig über die eigenen Kräfte hinaus funktionieren muss, kann ich irgendwann nicht mehr. Um uns als Marburger Bund Niedersachsen hierzu ein differenziertes Bild machen zu können, haben wir unsere Mitglieder zu verschiedenen Aspekten befragt: Mehr als die Hälfte der Befragten (54 Prozent) gibt an, sich häufig bis ständig überlastet zu fühlen. Ein Fünftel (21 Prozent) hat schon einmal eine Überlastungsanzeige gestellt. Bei 88 Prozent hat sich daraufhin jedoch nichts verändert oder die Bedingungen wurden sogar schlimmer.

Über 70 Prozent bestätigen eine Beeinträchtigung der Gesundheit. 60 Prozent klagen über Schlafprobleme, 62 Prozent verzichten mehrmals die Woche auf ihre Pausen, 72 Prozent geben an, zu wenig Zeit und Energie für das Privat- und Familienleben zu haben. Lediglich jede*r vierte Befragte (27 Prozent) gibt an, genügend auf die eigene Gesundheit zu achten.

 

Können Krankenhäuser bei eklatantem Personalmangel überhaupt einen ausreichenden gesundheitspräventiven Arbeitsschutz gewährleisten?

 

Die Krankenhäuser können es sich nicht leisten, dies nicht zu tun – auch und gerade mit Blick auf den gravierenden Personalmangel! Rund 70 Prozent unserer befragten Mitglieder bewerten die personelle Besetzung im ärztlichen Dienst als „eher schlecht“ bis „schlecht“. Mit zeitnahem Ausscheiden der „Babyboomer-Generation“ und nicht ausreichend nachrückendem ärztlichem Nachwuchs wird sich der Mangel in Zukunft noch signifikant zuspitzen. Die Krankenhäuser können es sich nicht erlauben, die Ärzt*innen, die wir haben, zu verlieren – sei es durch gesundheitliche Ausfälle oder Berufswechsel. Rund 40 Prozent unserer Befragten schließen einen Berufswechsel nicht aus!

Die Arbeitgeber*innen müssen an verschiedenen Stellschrauben drehen, sei es beispielsweise eine – vielerorts immer noch ausstehende - saubere digitale Arbeitszeiterfassung oder die Entlastung von nicht-ärztlichen Bürokratieaufgaben. Schritte gibt es viele, sie müssen aber gegangen werden!

So lange die Wirtschaftlichkeit in vielen Häusern über das Wohl der Ärzt*innen und letztlich auch über das der Patient*innen gestellt wird, wird dies allerdings nicht möglich sein.

 

Welche gesundheitsschädlichen Aspekte gibt es für Mitarbeitende im Krankenhaus neben kranken Patienten und Fachkräftemangel - Stichwort lange Schichten?

 

Bezeichnenderweise lässt sich hier eine ganze Reihe von Aspekten anführen, die sich negativ auf die Gesundheit des ärztlichen Personals in den Krankenhäusern auswirken können.

Um das fehlende Fachpersonal aufzufangen, leisten unsere Ärzt*innen bergeweise Überstunden und ausufernde Schichten. Rund 50 Prozent arbeiten mehr als 49 Stunden pro Woche. Fast ein Drittel gibt an, von ihrer/ihrem Arbeitgeber*in keine Möglichkeit zur systematischen Zeiterfassung zu erhalten und ein Viertel erhält keinen Ausgleich der Überstunden in Form von Vergütung oder Freizeitausgleich. Verschärft wird die Situation durch einen Stellenabbau im ärztlichen Bereich, den seit Beginn der Corona-Pandemie rund 40 Prozent der Befragten erleben.

Die vielgepriesene Digitalisierung bringt aktuell kaum Erleichterung. Veraltete Ausstattung und mangelnde Schulungsangebote erschweren den Ärzt*innen ihr Wirken, anstatt sie zu entlasten. Der Verwaltungswahn tut sein Übriges. Sowohl im ambulanten als auch im stationären Versorgungsbereich suchen immer mehr ärztliche Kolleg*innen einen vermeintlichen Ausweg in der Teilzeittätigkeit.

 

Wie wirkt sich schlechter Gesundheitsschutz der Mitarbeiter:innen auf die Patientenversorgung aus?

 

Würden Sie sich mit einem guten Gefühl von einem Chirurgen operieren lassen, der bereits 16 Stunden durchgearbeitet hat? Ich würde das nicht tun. Wer überlastet ist und permanent unter Zeitdruck durch die Schicht hetzen muss, kann den Patient*innen auf Dauer nicht gerecht werden. Ähnlich wie bei den Pflegekräften herrscht auch bei der Ärzteschaft massiver Personalmangel. Immer wieder kommt es zu eingeschränkten Versorgungsangeboten, Betten und Stationen müssen zeitweise schließen. Überlastete Ärzt*innen und zu wenig Zeit für zu viele Patient*innen bedeuten weniger Behandlungszeit. Da drohen oberflächlicheres Behandeln beziehungsweise Abstriche bei der Arbeitsqualität.

Wenn der Bürokratiewahn im Mittel täglich drei Stunden frisst, fehlt den Kolleg*innen diese Zeit am Patientenbett. Das Gesundheitssystem soll Menschen gesund machen. Stattdessen macht es in seiner jetzigen Form die Beschäftigten krank und bringt die Patient*innen in Gefahr.

 

Was muss sich in Krankenhäusern strukturell ändern, damit Mitarbeiter:innen weniger gesundheitsschädlichen Stressoren ausgesetzt sind?

 

Wir brauchen auch für Ärzt*innen verbindliche und sanktionierbare Personalbemessungsgrenzen. Zudem muss eine Entlastung von Aufgeben erfolgen, die nicht zwingend durch Ärzt*innen erledigt werden müssen, insbesondere von Bürokratie. Es ist nicht akzeptabel, dass drei Stunden und mehr täglich mit Verwaltungstätigkeiten vergeudet werden.

Die Digitalisierung weist so große Defizite auf, dass sie den Arbeitsalltag von Ärzt*innen entgegen ihrer Bestimmung zusätzlich erschwert – Tendenz steigend. Diese Defizite müssen beseitigt werden. Wir fordern eine leistungsfähige und moderne IT-Infrastruktur im Gesundheitswesen. Das Land muss die Digitalisierung vorantreiben!

Längst überfällig ist die Abschaffung des DRG-Systems. Stattdessen brauchen wir eine bessere Fallfinanzierung und eine bessere Finanzierung der Vorhaltekosten.

Wir fordern eine zukunftsweisende Krankenhausstrukturplanung für Niedersachsen mit mehr Personal – dies gilt für Krankenhäuser wie auch für Praxen und den Öffentlichen Gesundheitsdienst. Mehr Medizinstudienplätze sowie eine adäquate Finanzierung der Universitätsmedizin, eine bessere Finanzierung durch die Kassen sowie eine höhere Investitionskostenfinanzierung durch das Land sind alternativlos.


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