Seitenlogo
jm/lst

Preisanstieg treibt Tafeln ans Limit

Region (jm/lst). Die Lebenshaltungskosten in Deutschland sind so stark angestiegen wie seit mehr als 40 Jahren nicht mehr. Das hängt auch, aber nicht nur mit der Ukraine-Krise zusammen und macht sich inzwischen auch stark bei den Tafeln in der Region bemerkbar.

Wer die Nachrichten nicht verfolgt, merkt es spätestens beim Blick auf die Preisschilder im Supermarkt selbst: Das Leben in Deutschland wird teurer. Die Lebensmittelpreise sind in den vergangenen Wochen gestiegen, die Spritpreise geradezu explodiert. Expertinnen melden Inflationsraten in Rekordhöhe: Im Vergleich zum Vorjahr ist das Preisniveau in Deutschland um 7,3 Prozent gestiegen, teilte das Statistische Bundesamt vor wenigen Tagen mit. Die Lebenshaltungskosten sind so stark angestiegen wie seit mehr als 40 Jahren nicht mehr.
 
Weltmarkt in Aufruhr
 
Begonnen hat die Misere infolge der Corona-Pandemie. Die rasante Ausbreitung des neuartigen Virus versetzte den Weltmarkt in Aufruhr - Unsicherheiten verträgt ein System, das derart auf Erwartungen beruht, eher schlecht. Das gilt sowohl für Produzentinnen als auch Konsumentinnen. Kaum jemand traute sich im März 2020, große Anschaffungen zu tätigen. Wegen der geringen Nachfrage fuhren die Unternehmen ihre Produktion und damit auch den eigenen Konsum - beispielsweise von Rohstoffen und Energie- zurück. Der Rohölpreis sank auf ein historisches Tief.
Im Sommer 2021 folgte eine rasche Erholung. Die Stimmung der Marktteilnehmer:innen ist für die Konjunktur mindestens so entscheidend, wie die tatsächliche Lage. Und die Stimmung verbesserte sich so schnell, dass die Produzentinnen überfordert waren. In der Krise verringerte Produktionskapazitäten und niedrige Lagerbestände trafen auf eine enorme Nachfrage. Um diese bedienen zu können, brauchten Unternehmen schnell viel Energie - der Preisanstieg begann. Lieferengpässe konnten dennoch nicht verhindert werden.
Die Knappheit am Energiemarkt wurde auch durch die Tatsache verschärft, dass Russland seine Gaslieferungen bereits im Herbst 2021 auf das vertraglich festgelegte Minimum begrenzte. Auf der Produktionsseite trug die Erhöhung des CO2-Preises zum Höhenflug der Energiepreise bei - die Emmissionszertifikate der EU kosten heute deutlich mehr als noch vor einigen Monaten.
 
Höhere Nachfrage
 
Zudem hatten Staaten - darunter große Volkswirtschaften wie die USA und die Bundesrepublik - zwischenzeitlich gegengesteuert. Die Notenbank der Vereinigten Staaten (Fed) kaufte so viele Wertpapiere, dass die Geldmenge im Land sich im Vergleich zum Niveau vor der Pandemie beinahe verdoppelte. Die Regierung schürte Konjunkturpakete und gab den Bürgerinnen zusätzliche Kaufkraft in Form von „stimulus checks“. Beides trieb die Nachfrage in die Höhe. In Deutschland war zeitweise die Mehrwertsteuer gesenkt worden. Mit Beginn des Jahres 2021 endete die Maßnahme und die Preise der besteuerten Waren stiegen wieder.
 
Produktion wurde teurer
 
Bereits vor Beginn des Krieges in der Ukraine ließen diese Entwicklungen indirekt auch die Lebensmittelpreise steigen - schließlich wurde ihre Produktion deutlich teurer. Diesel für Traktoren, Düngemittel für die Felder, Strompreise - Landwirtinnen mussten alles neu kalkulieren. Die Transportkosten für international gehandelte Produkte aus der Landwirtschaft sind ebenfalls betroffen.
Der russische Angriff auf die Ukraine verschärft die Lage nun weiter. Zunächst herrscht grundsätzlich wieder eine große Unsicherheit am Markt: Russland liefert große Mengen Gas und Öl an andere Staaten und könnte den Hahn zudrehen, so die Befürchtung. Mittlerweile zeichnet sich zudem ein europäisches Embargo auf die russischen Exporte ab - was die Angebotslage auf dem Energiemarkt für Unternehmen in der EU drastisch verschärfen würde. So oder so: Mit sinkenden Energiepreise ist nicht zu rechnen.
Darüber hinaus fallen sowohl Russland als auch die Ukraine teilweise als wichtige Lieferanten von Getreide oder Sonnenblumenöl weg. Dank eines hohen Selbstversorgungsgrades muss die Europäische Union sich zwar nicht um Engpässe sorgen. Doch die Preise steigen trotzdem.
Nicht zuletzt wirkt sich der Krieg auch auf die Logistik in Europa aus. Wegen der Kämpfe und Sanktionen sind laut dem Bundesverband Güterverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) zehntausende russische und ukrainische Lkw-Fahrer weniger in Europa unterwegs als üblicherweise.
 
Andrang bei den Tafeln
 
Vor großen Herausforderungen aufgrund der aktuellen Entwicklungen stehen auch die Tafeln. Von einem Anstieg der Nachfrage um rund 20 bis 25 Prozent spricht Stephanie Thiele von der Geschäftsführung des Diakonischen Werks im Kirchenkreis Osterholz-Scharmbeck, dem Träger der Osterholzer Tafel. Es würden derzeit nicht nur viele Geflüchtete aus der Ukraine zu neuen Tafel-Kundinnen, sondern auch Menschen, die aufgrund der gestiegenen Lebensmittelpreise nicht mehr ohne Hilfe über die Runden kommen.
Das ehrenamtliche Tafel-Team, das aus rund 60 Aktiven besteht, könne den stärkeren Andrang bisher noch ganz gut abfangen, so Thiele. Es gebe sogar Übersetzer:innen für die Menschen aus der Ukraine. Thiele rechnet aber damit, dass sich die Situation in den kommenden Wochen verschärfen könnte.
Etwas schwieriger ist die Situation schon jetzt in Bremervörde. Die Tafel musste einen „Aufnahmestopp für Neukunden“ aussprechen. Dass inzwischen deutlich mehr Menschen die Tafel-Ausgabestellen in Bremervörde und Gnarrenburg aufsuchen als noch vor einigen Monaten, liegt laut Andreas von Glahn, Vorsitzender des Tandem-Vereins, dem Träger der Tafel Bremervörde/Gnarrenburg, zum einen an den gestiegenen Lebensmittelpreisen, zum anderen aber auch daran, dass wieder mehr Menschen kommen, die in der Vergangenheit aus Angst vor Ansteckung nicht mehr aufgetaucht seien.
Die Corona-Lage normalisiere sich, gleichzeitig müssten aber weiterhin Hygienekonzepte eingehalten werden und es dürften maximal zwei Personen gleichzeitig bedient werden, so von Glahn. Das führe dazu, dass die rund 40 ehrenamtlichen Tafel-Mitarbeitenden an ihre Grenzen stoßen. „Wir haben ein tolles Team, das auch bereit ist, Öffnungszeiten zu verlängern, aber wir müssen unsere Ehrenamtlichen vor Überlastung schützen“, sagt von Glahn.
Sorgen bereitet ihm zudem die Tatsache, dass aufgrund fehlender Veranstaltungen deutlich weniger Spenden gesammelt werden konnten. Und auf Spendengelder seien die Tafeln dringend angewiesen. Unter anderem auch, um steigenden Nebenkosten oder das teure Benzin für die Fahrzeuge zu bezahlen.
Eigentlich sollte ohnehin niemand auf die Tafeln angewiesen sein, die ja ursprünglich eingerichtet wurden, um der Lebensmittelverschwendung Einhalt zu gebieten. Grundsätzlich sieht von Glahn die Politik in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Menschen genug Geld haben, um sich mit Lebensmitteln versorgen zu können. Mit einer Einmalzahlung von 100 Euro für Bezieher:innen von Sozialleistungen sei es nicht getan.


UNTERNEHMEN DER REGION