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Patrick Viol

Kommentar: Das Unbehagen an der Impfung

Anstatt gegen Impfunwillige - oder unentschlossene zu wettern oder sie tendenziell aus dem öffentlichen Leben zu verdrägen, zeigt Patrick Viol in seinem Kommentar gesellschaftliche Gründe für die Impfunwilligkeit auf.
Wer Impfunwillige von der Notwendigkeit einer Impfung überzeugen will, sollte die gesellschaftlichen aber nicht bewussten Gründe für das Unbehagen an der Impfung zu verstehen versuchen.

Wer Impfunwillige von der Notwendigkeit einer Impfung überzeugen will, sollte die gesellschaftlichen aber nicht bewussten Gründe für das Unbehagen an der Impfung zu verstehen versuchen.

Für Ungeimpfte soll das Leben beschwerlicher werden, so das Ergebnis der Bund-Länder-Konferenz. Dem Beschluss zufolge werden alle Ungeimpften ab dem 23. August verpflichtet, einen ab dem 11. Oktober selbst zu finanzierenden, negativen Corona-Test vorzulegen, wenn sie öffentliche Innenräume betreten wollen. Wer sich nicht impfen lassen will, soll künftig dafür bezahlen, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Man will die Impfunwilligen oder - unentschiedenen nun also mit finanziellem Druck dazu bewegen, sich impfen zu lassen. Strategie: Asche statt Argumente. Und während sich die politischen Kommentartor:innen darüber streiten, ob dieser Ansatz zielführend ist und die Bevölkerung moralische Zweifel hat, ob man die Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte spalten sollte, beschäftigt sich keiner mit der Frage, ob nicht tatsächlich etwas Unvernünftiges an der Impfung die Menschen vor ihr zurückschrecken lässt. Man geht einfach mit Markus Söder davon aus, dass es keine vernünftigen Gründe gibt, sich nicht impfen zu lassen und daher alle Ungeimpften unansprechbare, unvernünftige Spinner oder Querdenker sind, die man nur noch mit Geld - dem rohsten Mittel überzeugen könne.
Doch die Sache liegt komplizierter. Und sie zu verstehen ist nicht nur für die Wiederherstellung unserer liberalen Gesellschaft unabdingbar. Das Verständnis über die möglichen Gründe der Impfunwilligkeit könnte helfen, die Unwilligen aber Nicht-Durchgeknallten von der Impfung zu überzeugen.
Keine Frage: Die Impfung an sich ist richtig, notwendig und der rationale Ausweg aus der Pandemie. Aber: Die Spritzen gehen doch allesamt in die Arme von Menschen, in denen die stumme Gewissheit virulent ist, dass ihre Gesundheit primär die gesellschaftliche Voraussetzung dafür bildet, ein funktionierendes Rädchen im System zu sein, das für die meisten nie die Belohnungen ausschüttet, die es verspricht und einen austauscht, wenn man nicht mehr ganz rund läuft. Die Menschen haben eine leise Ahnung davon, dass die Impfung - während sie Menschen schützt - zugleich eine „gesunde Normalität“ wiederherstellt, die aber so stressig, aufreibend, unsicher und zugleich unbelebt ist, dass der Einzelne sich in ihr selten wirklich gesund fühlt.
Und wenn Jens Spahn die Impfung zu einem patriotischen Akt und nicht zu einer Handlung für die Freiheit der Menschheit erklärt, dann spricht er diesen unvernünftigen, weil von ökonomischen Zwängen bestimmten Zusammenhang aus: Bei der Impfung geht es nicht um den Schutz des individuellen Leibes als Quelle individuellen Glücks, sondern sie gilt primär dem zum Funktionskörper erniedrigten Leib als notwendige Durchgangsstation der nationalstaatlich abgesicherten Mehrwertproduktion. Das ist das Unvernünftige an der Impfung, das manche Menschen vor ihr bewusstlos zurückschrecken lässt: An ihr hängt der Schrecken der Gesellschaft selbst. Das Vakzin ist für manche Menschen mit ihrer Negativität, die jede Gesundheit in ausbeutende Funktionalität verwandelt, kontaminiert, weshalb die Spritze bei ihnen Unbehagen auslöst.
Die Einsicht in diesen Zusammenhang macht es aber nicht vernünftig, sich nicht impfen zu lassen. Das nicht zu tun, beweist nur, dass man die gesellschaftlich geforderte Funktionalisierung seiner selbst als Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen ausagieren muss, um sich besser zu fühlen.
Diese Einsicht sollte dazu dienen, Unwillige dadurch zur Impfung zu bewegen, indem man mit ihnen darüber spricht, ob es nicht zutreffen könnte, dass sie ihr berechtigtes aber bewusstloses Unbehagen an der Gesellschaft fälschlicherweise auf die Impfung verschieben. Und ebenso sollte diese Einsicht die Geimpften ihren Drang, alle Impfunwilligen apriori zu Idioten zu machen, reflektieren lassen. Sie sollten sich fragen, ob sie damit nicht versuchen, sich eine Einsicht über sich selbst vom Leib zu halten: dass sie vom alltäglichen Schrecken der Gesellschaft überhaupt nichts mehr mitbekommen.


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