Patrick Viol

Gastkommentar: Von der Ohnmacht nicht irre machen lassen

Andreas Stahl analysiert die psychologische Funktion von Verschwörungstheorien.
Am Wochenende demonstrierten in vielen Städten sogenannte "Corona-Kritiker". Viele von ihnen glauben an Verschwörungstheorien und gehören der rechten Szene an.

Am Wochenende demonstrierten in vielen Städten sogenannte "Corona-Kritiker". Viele von ihnen glauben an Verschwörungstheorien und gehören der rechten Szene an.

Bild: Patrick Viol

„Meine Zielgruppe ist der Mensch.“ So eröffnete der Aktivist Ken Jebsen vergangenes Wochenende in Stuttgart seine Rede vor tausenden „Corona-Rebellen“. Jebsen zufolge entwickeln sich Deutschland und die Welt zu einer „Gesundheitsdiktatur“, hinter der nicht nur die Bundesregierung, sondern vor allem die Milliardäre Bill und Melinda Gates stecken. Das neue Coronavirus sei ein „trojanisches Pferd“ - mit dem Zweck, staatliche Macht zu vergrößern, das Volk zu „versklaven“ und daraus ein „Geschäftsmodell“ für Pharmakonzerne und das Ehepaar Gates zu machen.
Solche Verschwörungsmythen sind keinesfalls neu: Bereits in den 1940ern beobachteten die Sozialforscher Theodor W. Adorno und Leo Löwenthal ähnliche Propagandamechanismen. Verschwörungstheorien versuchen hauptsächlich, die Komplexität der modernen Gesellschaft zu reduzieren, indem sie für tatsächlich erfahrenes Leid einige wenige verantwortlich machen. Statt sich mit der vielschichtigen und nicht immer leicht zu erkennenden Funktionsweise der modernen Gesellschaft kritisch und sachlich auseinanderzusetzen, will man schlicht, was man für „eins und eins“ hält, „zusammenzählen“. Dieser Wunsch verhindert gerade eine kritische Auseinandersetzung mit der Welt, wie sie ist. Ihre Vielseitigkeit übersteigt die Logik, die hinter der einfachen Rechnung „1 und 1“ steckt. Würde man sich wirklich mit der Welt auseinandersetzen und nicht lediglich in Gedanken vereinfachen, so hätte man zum einen längst herausfinden können, dass weder einzelne Politiker*innen noch Konzerne oder Lobbygruppen die Macht haben, demokratische Staaten zu „unterwandern“. Und zum anderen, dass die sogenannten „Corona-Kritiker“ sich permanent widersprechen. Die Medien als Lügner und gekauft zu bezeichnen, dann aber die eigenen kruden Thesen mit Artikeln aus diesen Medien zu belegen, wie Jebsen es tut, entbehrt jeder Rationalität.
Mit der Vereinfachung der Welt geht eine Feindschaft gegenüber Rationalität und Wissenschaft einher. Allen seriösen wissenschaftlichen Untersuchungen zum Trotz wird behauptet, bei Covid-19 handle es sich bloß um eine „harmlose Grippe“. Und Impfstoffe seien zudem vergiftet. Belegen kann dies natürlich niemand. Das ganze „System“, die angebliche „Schöpfung“, zu der Jebsen auch Viren rechnet, könne man ohnehin nicht verstehen, sondern nur respektieren. (Woher weiß man dann eigentlich, dass es sich um ein System handelt?) Weshalb aber glauben Menschen solche kruden Theorien? Warum werfen Menschen einerseits der Politik und den Medien vor, sie lögen, glauben aber andrerseits an ein ominöses Geheimwissen ohne Beweise? 
Der Kritischen Theorie zufolge verstärken die anonyme wie hierarchische Ordnung des Kapitalismus, die Ohnmacht und die damit zusammenhängende narzisstische Kränkung jedes Einzelnen den Wunsch, manipuliert zu werden und gleichzeitig andere zu bestrafen. Daraus erwächst auch das Bedürfnis, sich einem Kollektiv unterzuordnen, das einem zugleich das Gefühl von Stärke vermittelt. Das „wahre Volk“ der „einfachen“ und „normalen“ Bürger, die über „gesunden Menschenverstand“ verfügten, solle dann die „echte Demokratie“ gegen sogenannte "korrupte Eliten" und die „wirklichen“ Weltherrscher - notfalls mit Gewalt - erkämpfen, wie es Jebsen und andere derzeit fordern. Die Welt wird dabei in Gut und Böse eingeteilt, in Wir und Sie. Ob die geheimnisvollen Strippenzieher nun Gates, Rothschild oder Soros heißen - das Prinzip ist meist dasselbe: Antisemitismus. Dieser nämlich spielt sich in der Vorstellungswelt des Einzelnen ab und hat mit der realen Welt nichts zu tun.
Warum aber kommen Verschwörungsmythen gerade während Corona so gut an? In Krisenzeiten schlägt der gesellschaftlich bedingte Narzissmus in aggressives und autoritäres Verhalten um. Die selbsterklärten „Corona-Rebellen“ sind demnach gar keine wirklichen, sondern konformistische Rebellen: Sie wollen, dass alles so bleibt, wie es ist.
Die fast unlösbare Aufgabe besteht also weiterhin darin, weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.
Andreas Stahl ist Mitherausgeber des im Juni 2020 im Verbrecher Verlag erscheinenden Sammelbandes „Konformistische Rebellen. Zur Aktualität des autoritären Charakters“.


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