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Eine Körpererfahrung im Kino

"In die Sonne schauen": Benjamin Moldenhauer über einen Film, der weniger verstanden als durchlebt werden will.
Regisseurin Mascha Schilinski (dritte von rechts) und Darsteller:innen bei der Präsentation des Filmes in Cannes.

Regisseurin Mascha Schilinski (dritte von rechts) und Darsteller:innen bei der Präsentation des Filmes in Cannes.

Bild: Martin Kraft

Es gilt in der Liebe, in der Kunst und überhaupt im Leben: Jede Form, wie schön und produktiv auch immer, ist zugleich auch eine Beschränkung. Wer mit dem im Wesentlichen in Hollywood entwickelten Erzählkino aufgewachsen ist und das, was man gerne Medienkompetenz nennt, vom US-amerikanischen Film gelernt hat, sieht Filme zuallererst als verfilmte Erzählungen. Also als bebilderte Geschichten, zumeist in einer Dreiaktstruktur, die auch dann noch strukturbildend ist, wenn von ihr abgewichen wird. Denn noch die Abweichung braucht die Struktur, um Abweichung sein zu können.

„Sieht zuallererst“ heißt hier: „Sieht bewusst“, also sieht die Filme auf einer bewussten Ebene als Erzählungen. Auf weiteren und vielleicht wirklich grundlegenderen Ebenen passiert noch viel anderes. Man sitzt als körperliches Wesen im Kino, und der Zuschauer:innenkörper schwingt nicht nur mit Figuren und Plotpoints mit, sondern mit dem, was man gerne etwas unzureichend „die Atmosphäre des Films“ nennt. Sie setzt sich zusammen aus Farben, Klängen, Bewegungen auf der Seite der Leinwand. Und aus den Erinnerungen, Assoziationen und weiteren Splittern aller Art, die Zuschauerin und Zuschauer mit in das Filmgeschehen einspeisen, ohne diese Amalgamierung kontrollieren zu können.

 

Freiheit und Formbewusstsein

Der Film „In die Sonne schauen“ der Regisseurin Mascha Schilinski erzählt keinen Plot im Sinne einer linear oder auch komplex aufgebauten Erzählung. Er mischt die Zeiten: Ein Bauernhof in Sachsen-Anhalt, vier unterschiedliche Punkte in der Geschichte: kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs, während des 2., in den Achtzigerjahren und in der Gegenwart. Als Zeiten verbindende Körper fungieren die Frauenfiguren des Films. Sie erleben Ähnliches, werden aufeinander bezogen, tauchen wieder auf, als Erinnerungen, die die Körper in späteren Zeiten ergreifen, als Motive und Erfahrungen, meist gewaltsame, die sich wiederholen müssen. Die Kamera ist so frei wie die Tonspur, alles, was zu sehen und zu hören ist, ist frei in der Form und zugleich spürbar durchkomponiert. Freiheit und Formbewusstsein finden hier zusammen wie ansonsten eher in kollektiv improvisierter Musik als im Kino.

Wo es keinen Plot gibt, entfaltet das, was woanders unterschwellig läuft und wirkt, eine unheimliche Präsenz. Nach vorne gemischte Naturgeräusche, Sonnenlicht, das in die Kamera und damit in das Zuschauerauge einfällt, Dialoge, die bedeutsam sind, aber auch nicht sonderlich wichtig, weil man die Bilder auf eine seltsam intuitive Art auch so versteht. Natürlich schälen sich nach und nach Motive heraus. „In die Sonne schauen“ ist kein abstrakter Experimentalfilm, sondern verfährt maximal konkret. Es geht um Gewalterfahrungen, um die Toten, die die Lebenden packen, um Frauen/Männer, Arbeit, Krieg, Sexualität, den Wunsch zu verschwinden, um Kinder, Fotografien und Geister. Aber aus all dem ergibt sich keine Klarheit. „In die Sonne schauen“ heißt hier eine Körpererfahrung zu machen. Der Film setzt sich sozusagen zusammen aus den Zuständen, in denen er jeden einzelnen Zuschauer, jede einzelne Zuschauerin versetzt.

Um beschreiben zu können, was hier passiert, hilft ein Interview, das die Regisseurin Mascha Schilinski dem NDR gegeben hat, nachdem ihr Film bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes mit dem Preis der Jury ausgezeichnet worden war. Zwei Aspekte nur: Zum einen spricht Schilinski in Zusammenhang mit dem Drehbuch, der Kameraarbeit und der Arbeit mit den Schauspieler*innen (darunter viele Kinder und Komparsen aus dem Dorf, in dem „In die Sonne schauen“ entstanden ist) nur selten von „ich“ oder „mir“, sondern meist von „wir“ und „uns“. Die Bilder und Klänge und ihre Montage sind in Konstellationen und Beziehungsgeflechten entstanden, kollegialen, freundschaftlichen, Familien- und Liebesbeziehungen. Die Kamera hat Mascha Schilinskis Ehemann Fabian Gamper bedient. Es gibt keinen Autoren mehr, der alles das zentral organisiert. Die Bilder, Techniken und Phantasien vieler Menschen fließen in einem Szenario zusammen.

Und dieses „Wir“ und dieses „Uns“ findet traumwandlerisch seine Entsprechung auf der Leinwand. Es gibt keine Zentralfiguren, es wird nicht vom Schicksal einer sogenannten Hauptperson berichtet. Stattdessen löst sich jedwedes Zentrum auf. Die Zeiten verschwimmen, die Erinnerungen brechen in die Gegenwart ein, und die Gegenwart wiederum versucht, eher vergeblich, die Vergangenheit aufzuschlüsseln, die sich immer wieder verrätselt entzieht. Alle Menschen hängen mit allen Zeiten zusammen, und in den gespenstischen Wiederholungen, die aufblitzen, löst alles Lineare sich auf. Alexander Kluge und Oskar Negt haben diese Auflösung einer Trennung im Sinne von „Das war gewesen und das ist jetzt“ in einem Satz zusammengefasst, den man zur Beschreibung des ästhetischen Verfahrens von „In die Sonne schauen“ anbringen kann, in dem die Erfahrung von Gegenwart und Geschichte die Figuren und damit auch die Zuschauer*innen beharrlich befällt, als körperliche Erfahrung: „Die Zellen wissen alles bis zu den Sternen hin, der Kopf hat so etwas nie erfahren oder vergessen.“

 

Referenzlos und zentriert zugleich

Zum anderen hat Mascha Schilinski dem NDR gestanden, dass sie selbst kaum Filme gesehen habe, und immer wenn ihr jemand sagt, dass ihre Bilder ihn an Filmemacher xy erinnern, wüsste sie oft nicht, was gemeint ist. Tatsächlich wirkt „In die Sonne schauen“ referenzlos und zentriert zugleich, auf allen Ebenen: Bezüge zu anderen Filmen unterlaufen ihm eher. Die Menschen um Mascha Schilinski haben mit ihr so etwas wie ein von Erzählkonventionen befreites Leinwandgeschehen hervorgebracht. Die Figuren sind der Zeit enthoben, Grenzen zwischen den Epochen schmelzen weg und zugleich sind die Menschen hier in ihrer Welterfahrung straff an Geschichte und Gegenwart gebunden. Eigensinn gibt es trotzdem: Eine der Frauen verschwindet aus dem Bild, wie ein Geist, und ward nicht wieder gesehen. Die Erfahrung von Linearität, die uns im Kino so ungemein beruhigt, ist hier nicht mehr möglich, alles durchmischt sich, keine männliche Instanz, die für Ordnung sorgt.

In diesem Sinne erinnert „In die Sonne schauen“ doch an die Arbeiten eines anderen Filmemachers, nicht in der Verfahrensweise, sondern in dem Blick, den er als ästhetische Erfahrung auf so etwas wie „Geschichte“ ermöglicht. Der Dokumentarfilmer Thomas Heise hat in seinen Filmen einen Satz immer wieder mit der Kamera ausgelegt, und auch wenn die Bilder als Ergebnisse ganz andere sind als die des Produktionszusammenhangs um Mascha Schilinski, ist eine Verwandtschaft doch zu spüren. „Man kann sich die Geschichte länglich denken“, sagt Heise. „Sie ist aber ein Haufen.“


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