Toni Oswald

Die Wirklichkeit des Krieges

Artur Weigandt verknüpft persönliche Erlebnisse, historische Erfahrung und politische Reflexion. Seine Antwort auf die pazifistische Ermüdung des Westens ist kein Aufruf zur Militarisierung, sondern zur Wahrhaftigkeit.

Bild: Adobestock

Das Wort „Wehrhaftigkeit“ hört man nun oft. Auch Artur Weigandts Buch „Für euch würde ich kämpfen“ greift es auf und knüpft damit an eine Debatte an, die auch in dieser Zeitung schon Thema war. Als das Aktionsbündnis gegen den Tag der Bundeswehr in Osterholz-Scharmbeck eine Militarisierung der Gesellschaft beklagte, berichtete Patrick Viol von Ole Nymoen, dem vom Aktionsbündnis geladenen Autor des Buches „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“. Darin behauptet dieser staatskritisch, dass es keinem einzigen Staat jemals um die einzelnen Bürger gehe. Viol erlaubte sich den Einspruch, die Kritik des Staates dürfe nicht vergessen, dass nicht alle staatlichen Gewaltverhältnisse gleich seien – und manche gegen Schlimmere verteidigt werden müssten. Und lieferte für seine Kritik triftige Gründe.

Unterschied in der Form

Ole Nymoen hat es mittlerweile nicht nur ins Osterholzer KuZ, sondern auch zu Markus Lanz geschafft. Umso begrüßenswerter, dass Artur Weigandts „Für euch würde ich kämpfen“, das wie Nymoens Buch im tarnfarbenen Cover daherkommt, auch als Gegenentwurf zu dessen theoretischen, aber äußerst schablonenhaften Erwägungen zu lesen ist.

Dies zeigt sich schon in der Form, die jener seines ersten Buches ähnelt. Schon in „Die Verräter“ (2023) verknüpfte Weigandt journalistische Beobachtung, literarische Erzählung und gesellschaftliche Reflexion – dort in Bezug auf den Riss, der durch russischsprachige Familien geht, wenn der Krieg in der Ukraine und der großrussische Nationalismus zur Sprache kommen. Er erzählt durch die eigene postsowjetische Geschichte und die seiner Familie hindurch, die teils von Stalin in die kasachische Steppe deportiert wurde und auf eine vergangene Heimat in Belarus, der Ukraine oder als russische Wolgadeutsche zurückblickt. Weigert geht also von den konkreten Menschen und deren realen Lebensbedingungen aus, die Nymoen als Konsequenz seiner abstrakten Staatskritik abhanden kommen, während er dem Staat vorwirft, er interessiere sich nicht für sie.

Die Wirklichkeit des Krieges

Weigandt geht in seiner neuen Reflexion zur Wehrhaftigkeit wiederum von den Einzelnen und ihrer Geschichte aus. Er erzählt von der Ausbildungsmission am Leopard-1-Panzer in Deutschland, bei der er als Übersetzer tätig war. Von der ukrainischen Front, wo der Autor den Soldaten mit dem Kampfnamen „Hyäne“ wiedertrifft. Aus Kyiv, wo Olena und Dmytro darüber nachdenken, sich der Armee anzuschließen, um ihr Zuhause zu verteidigen. Aus Krankenhäusern, wo invalide Veteranen auf den Deutschen Werner Pfeuffer treffen, der seinen Ruhestand damit verbringt, in ukrainischen Kranken- und Waisenhäusern zu helfen. Beachtlich ist nicht nur der Satz von „Hyäne“, dass er schlicht nicht wolle, dass jemand anderes für ihn sterbe. Wichtig ist auch die Erinnerung daran, was die von Weigandt getroffenen Menschen über die russische Besatzung erzählen, der sie entfliehen konnten oder aus der sie befreit wurden. Willkür bedeutet dort: Verhaftung, Vergewaltigung, Folter, Mord.

„Die Welt ist kein Seminarraum mehr“

Weigandt drückt sich nicht um den Schmerz des Todes, die Qual der Invaliden, die Angst, die eigenen Zweifel. Er ist zugleich klar im Urteil:

„Ich bin es leid. Leid, dass jede Debatte im Westen damit beginnt, dass wir uns selbst in den Staub werfen. Leid, dass wir unsere Werte nur noch flüstern, während andere sie längst zertreten. Leid, dass wir immer noch glauben, moralisch rein bleiben zu müssen, während anderswo Menschen kämpfen, überleben, sterben – für etwas, das wir längst verloren zu haben scheinen: Klarheit.“

Der Krieg in der Ukraine tobt, die Fronten verhärten sich, die Propaganda wird raffinierter. „Die Welt ist kein Seminarraum mehr“, schreibt Weigandt und rechnet mit einem Teil der Friedensbewegung ab, die „nicht mehr für Frieden steht, sondern – ob aus Naivität oder Kalkül – zum Erfüllungsgehilfen russischer Großmachtfantasien geworden ist“. Eine - so finde ich - treffende Kritik, die man in dieser Zeit, die nicht nur eine der Krise, sondern eine ist, in der überwunden geglaubte Ideologien wieder wichtiger werden, nicht zu oft äußern kann.

Begegnung im Bus nach Kyiv

Ich möchte dem etwas Persönliches beifügen. Im Bus auf dem Weg nach Kyiv traf ich diesen Sommer eine junge Mutter, die seit einigen Jahren, schon vor 2022, ihre ukrainische Familie nicht mehr gesehen hatte, da sie mit ihrem russischen Mann und den Kindern in Armenien lebt. Sie fuhr wieder hinein in ihre Heimatstadt, als die russischen Angriffe am lautesten tobten, um vorerst ein letztes Mal ihre Neffen zu sehen. Jene sollten bald das Land verlassen, bevor eine Ausreisesperre ab 18 Jahren gilt. Es sei nicht ihr Krieg, betonte sie – doch damit hat sie kein Urteil gefällt über jene, die bereit sind, für ihr Zuhause und ihre Familie zu kämpfen. Sichtlich bewegt, die Stadt ihrer Kindheit wiederzusehen, versicherte sie, Kyiv sei ihr die schönste Stadt; die Stadt, in der sie ihren Mann traf.

Es ist nicht ihr Krieg, aber sie sind mittendrin. Damit ihre Kinder nicht kämpfen müssen, gehen viele mittelalte ukrainische Väter und Mütter zum Militär. Das hat mich zum folgenden Gedanken bewegt: Vielleicht ist die deutsche Debatte um die Wehrpflicht ab 18 Jahren, die nicht einem Fronteinsatz gilt, eine falsche: Auch Erwachsene – gemeint ist nicht die Volljährigkeit – haben als Einzelne die Welt nicht gemacht, wie sie ist, und müssen trotzdem die Verantwortung dafür übernehmen.

Lange galt in der Ukraine eine Ausreisesperre für Männer zwischen 18 und 60 Jahren; mittlerweile dürfen junge Männer im Alter von 18 bis 22 wieder ausreisen. Auch für sie, damit gehen und in ein freies Land zurückkehren können, kämpfen Männer und Frauen an der ukrainischen Front. Sie kämpfen gegen einen Feind, der ganz Europa bedroht.

Das ist es, woran Weigandt erinnert, wenn er einen „wehrhaften Pazifismus“ fordert: Sie kämpfen für alle, die ein freies Europa dem russischen Mord-Regime vorziehen. Das sollte berücksichtigen, wer über Militarisierung spricht.


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