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Patrick Viol

Die verdrängte Quintessenz des Hasses

Im offiziellen Gedenken gilt Auschwitz als zentraler Ort der Ermordung der Jüdinnen und Juden. Doch ihre industrielle Vernichtung wurde in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka betrieben, zu deren Ausmaß und Organisation der Historiker Stephan Lehnstadt ein Buch vorgelegt hat: Der Kern des Holocaust.
Deportation polnischer Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto in Siedlce nach Treblinka 1942. Bild:wiki commons

Deportation polnischer Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto in Siedlce nach Treblinka 1942. Bild:wiki commons

Der 9. November ist seit 1938 ein Tag der deutschen Schuld. Die an diesem Tag vor 83 Jahren verübten Pogrome an den in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden gelten als Auftakt des Holocaust: der Vernichtung der europäischen Juden durch die Deutschen.
Jedes Jahr gedenken an diesem Tag das deutsche Staatspersonal wie zivilgesellschaftliche Akteure der jüdischen Opfer und stehen dabei als Repräsentanten der Täternation ohne Umschweife - im Gegensatz noch zu den 90er Jahren - zu den barbarischen Verbrechen, die die Deutschen von 1933 bis 1945 an ihren jüdischen Mitmenschen begangen haben.
Ein allgemeines Bewusstsein für die historische Schuld lässt sich in Anbetracht des Gedenkens nicht leugnen. Es ist vorhanden und geht nicht selten mit dem behaglichen Gefühl einher, sich der Vergangenheit: sich den Verbrechen in Auschwitz gestellt, sie bewältigt zu haben. „Doch bei dem konkreten Wissen sieht es düster aus“, wie der Historiker Stephan Lehnstaedt in seinem Buch „Der Kern des Holocaust“ schreibt. Und von der Dunkelheit des Nichtwissens bedeckt wird die „Aktion Reinhardt“ mit ihren drei Vernichtungslagern Belzec, Sobibor und Treblika im Generalgouvernement des besetzten Polen, über die der Historiker nicht nur sein Buch verfasst hat, sondern am 9. November auch einen Vortrag hielt. Sein Vortrag bildete die Auftaktveranstaltung der 16-teiligen Onlinereihe „Erinnern als die höchste Form des Vergessens? Der Holocaust im Diskurs des 21. Jahrhunderts, die noch bis zum Mai nächsten Jahres weiterläuft.
 
Die „Aktion Reinhardt“
 
In seinem Buch, wie in seinem Vortrag am 9. November, zeigt Lehnstaedt, dass die Deutschen seit dem September 1939 an den polnischen Juden ihr antisemitisches Programm, das sie seit 1933 verfolgten und das in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zum ersten Pogrom in Deutschland führte, zum Genozid weiter entwickelten. In Belzec, nicht in Auschwitz, wie Lehnstaedt schreibt, wurde der im Frühjahr 1942 einsetzende „industrielle Massenmord ... ‚erfunden‘“.
Hier rollten Viehwaggons mit bis zu 5000 zusammengepferchten Menschen an, die von Männern wie Christian Wirth oder Franz Stangel direkt, ohne weitere Selektion in Arbeitsfähige oder -unfähige, in Gaskammern getrieben und „ebenso simpel wie brutal effizient mit Motorabgasen“ ermordet wurden.
 
Euthanasie geschulte Mörder
 
Die Vergasung von Menschen hatten Wirth und Stangel bereits während des Euthanasie-Programms „Aktion T4“ betrieben, zwar noch mit in Flaschen abgefülltem Kohlenmonoxid. Aber bei der „Endlösung“ der Judenfrage - es „ließ sich der Hass auf die Juden hervorragend mit Karriereambitionen verbinden“, so Lehnstaedt - bewiesen deutsche Karrieristen äußerste Kreativität. Und das ganz im Sinne Reinhard Heydrichs, des Koordinators und „Beauftragten für die Vorbereitung der Endlösung der europäischen Judenfrage“, nach dem die Aktion benannt wurde. Dessen Begriffe „Evakuierung“ oder „Umsiedlung“ der Juden nach Osten seien bereits vor der von Heydrich einberufenen Wannseekonferenz am 20. Januar 1942 als „euphemistischer Code“ für die Organisation der Judenvergasung im europaweiten Maßstab etabliert gewesen. Auf der Konferenz sei es nur noch „um das Wo und Wie der Vernichtung“ gegangen, so Lehnstaedt. Dabei tat sich mit mörderischer Initiativkraft besonders Odilo Globocnik hervor, sodass er am 13. Oktober 1941 von Heinrich Himmler den Auftrag bekam, die Juden des Distrikts Lublin zu ermorden. Zu dessen Durchführung lies er noch Ende Oktober das Lager Belzec, den ersten Baustein der „hocheffizienten Tötungsmaschinerie“, errichten.
 
Die Leichenfabrik
 
Für die massenmörderische Arbeit, die vor allem in der Beseitigung der Leichen bestand, da die Vergasung in 20 Minuten 2000 Menschen tötete, rekrutierte Globocnik unter den gefangenen Rotarmisten sogenannte fremdvölkische Hilfswillige. Vor allem nicht besonders sowjetaffine Ukrainer und deutschstämmige Russen beteiligten sich an der Judenvernichtung. Bis zum Kriegsende waren es 5000 von ihnen.
Die Leichen versuchte man zunächst in Massengräbern zu verscharren. Allein in Belzec konnten 33 gefunden wurden. Doch die Leichenbeseitigung erweis sich auf diese Weise als kaum zu bewerkstelligen. So schreibt der Überlebende Abraham Krzepicki über Treblinka „Es waren überall Leichen, Dutzende, Hunderte und Tausende Leichen. Leichen von Männern, Frauen und Kindern aller Altersgruppen ...“ Und so war es: Alleine in Treblinka trafen im Juli und August 1942 300.000 Juden aus dem Warschauer Ghetto ein, fast 10.000 am Tag, die umgehend getötet wurden.
Schließlich reichten zum einen die Gräber nicht mehr aus, zum anderen entwickelten die gefüllten Gruben einen bestialischen Gestank. So fing man an, die neuen Leichen unter freiem Himmel zu verbrennen und die bereits verscharrten - teilweise mit Baggern - zu exhumieren, um auch sie dem Feuer zuzuführen. - Die Lager waren eine gigantische Fabrik zur Leichenproduktion.
 
Fatale Lücke im Gedenken
 
Insgesamt wurden im Rahmen der Aktion Reinhardt ca. 1,8 Millionen Juden und Jüdinnen vernichtet. Und das in kürzester Zeit: Bis 1943 hatte man fast alle polnischen Juden getötet. Aber nicht nur polnische. Auch Juden aus Griechenland, Jugoslawien, Deutschland, Böhmen und Mähren, der Slowakei, den Niederlanden, Frankreich, Weißrussland und Litauen wurden in den Lagern Belzec, Treblinka und Sobibor ermordet.
Die Aktion Reinhardt, hält der Historiker Lehnstaedt fest, zeige sowohl die „wahrhaft europäische Dimension“ sowie die „‚Arbeitsteilung‘ im Holocaust“. Sie stelle dessen „Kern“ dar. „Eine monströse Tat, die sich heutzutage nicht wie in Auschwitz in einem gigantischen Lagerkomplex für Zehntausende Zwangsarbeiter offenbart, sondern gerade in dessen Nichtvorhandensein. So steht die Aktion Reinhardt für die Quintessenz des Hasses und des deutschen Antisemitismus. Sie war die reine Vernichtung ohne irgendwelchen sonstigen ‚Nutzen‘“, so Lehnstaedt, die, wie er zeigt, in einem rational organisierten Rahmen praktiziert wurde.
Und doch: Obwohl die Aktion Reinhardt das Wesen des Nationalsozialismus: sein schwer denkbares Ineinander von objektivem Wahn und Rationalität in seiner ganzen Brutalität eklatant zeigt, spielt es im offiziellen Gedenken - weder in Deutschland noch in Polen - eine bedeutende Rolle. Noch 2015 scheiterte eine faktionsübergreifende Initiative des Unterausschusses für Auswärtige Kulturbeziehungen des Bundestages, die vier Millionen Euro für politische Bildung zur Aktion Reinhardt und für die Gedenkstätten Belzec und Sobibor zur Verfügung stellen wollte, am Veto des Haushaltsausschusses.
Angesichts der Zentralität der Aktion Reinhardt für die „Endlösung“ erfährt deren Verdrängung aus dem offiziellen Gedenken seitens des Historikers harsche Kritik: Solches Gedenken verhelfe den Tätern zu spätem Erfolg: Denn sie wollten nicht nur die Jüdinnen und Juden vernichten, sondern „auch die Zeugnisse ihrer Existenz und ihres Leids.“
Die nächste Veranstaltung: Normalität und Massenmord. Zur Sozialpsychologie der NS-TäterInnenschaft mit Prof. Dr. Rolf Pohl findet am 23. November statt. https://linktr.ee/erinnern2021


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