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Patrick Viol

Die Singularität der Shoa und ihre Infragestellung von links (Teil I):

In drei Teilen beleuchtet Patrick Viol, worin die Besonderheit des Holocausts besteht und wie linke Akademiker sie infrage stellen.

Die Besonderheit der Shoa: Arbeit war in Auschwitz nicht der Modus der Ausbeutung, sondern der Vernichtung. Entscheidend war nicht die Arbeit der Juden und Jüdinnen, sondern ihr Tod.

Die Besonderheit der Shoa: Arbeit war in Auschwitz nicht der Modus der Ausbeutung, sondern der Vernichtung. Entscheidend war nicht die Arbeit der Juden und Jüdinnen, sondern ihr Tod.

Bild: Wikicommons

Coronaleugner:innen haben auf ihren Demos gegen eine vermeintliche Corona-Diktatur Judensterne mit der Aufschrift „ungeimpft“ getragen. Im Internet wurden vom selben Klientel Memes verbreitet, welche das Eingangstor des am 27. Januar 1945 von der Roten Armee befreiten KZ Auschwitz-Birkenau zeigen. Zu lesen ist am Tor aber nicht „Arbeit macht frei“, sondern „Impfen macht frei.“

Mit solchen Armbinden und Memes wird nicht nur eine widerliche Selbstviktimisierung von Nachfahren nationalsozialistischer Täter:innen betrieben. Es handelt sich dabei auch um Relativierungen und Verharmlosungen des Holocaust, die im Modus der Warnung vor dessen Wiederholung seine - in Deutschland bislang als unhinterfragbar geltende - Singularität, d. h. seine Beispiellosigkeit in Abrede stellen. Indem Auschwitz oder der Holocaust als Symbole alles Schrecklichen herangezogen werden, wird die ihnen die Singularität verleihende Spezifik der nationalsozialistischen Verbrechen aufgelöst.

 

Der erste Historikerstreit

 

Ein Angriff auf die Singularität des Holocausts erfolgt aber nicht nur im Internet und auf Demos rechtsradikaler und esoterischer Antisemiten. Zum einen wurde sie auch in der Geschichtswissenschaft prominent bestritten. 1986 war das. Ernst Nolte, der Lieblingshistoriker rechtsradikaler Geschichtsrevisionisten, behauptete damals, die Konzentrations- und Vernichtungslager seien von Stalins Arbeitslager übernommen worden. Und der Holocaust sei eine vorbeugende Vernichtung von Menschengruppen gewesen, die aufgrund der Bedrohung durch die kommunistische Ideologie erst zu Feinden erklärt worden seien. Mit seinen Thesen hat Nolte drei die Deutschen entlastenden Ideologeme etabliert: Erstens hätte es die Konzentrations- und Vernichtungslager ohne Stalins Arbeitslager nicht gegeben. Zweitens sei nicht der eleminatorische Antisemitismus der Antrieb der Judenvernichtung gewesen, sondern eine Verteidigung gegen Feinde. Somit sei drittens der Holocaust ein gewöhnlicher, qualitativ von anderen Genoziden nicht unterscheidbarer Massenmord gewesen.

Öffentlich kritisiert wurden Noltes Thesen im Deutschland vom Philosophen Jürgen Habermass. In die Geschichtsbücher eingegangen ist ihre Debatte als Historikerstreit.

 

Historikerstreit 2.0

 

Zum anderen geht die Infragestellung der Präzedenzlosigkeit des Holocaust nicht mehr bloß von Rechtsradikalen, Rechtspopulisten und Verschwörungsideologen aus. Zunehmend werde, wie der Historiker Jan Gerber in dem dazu empfehlenswerten Band „Die Untiefen des Postkolonialismus“ schreibt, die Singularität des Mordes an den europäischen Jüdinnen und Juden von linken antirassistischen, postkolonialen Akademiker:innen verschiedenster Provenienz „hinter anderen Formen der Massengewalt zum Verschwinden gebracht“. Und nicht selten geht diese linke Infragestellung mit dem Vorwurf an Israel einher, seine Politik ähnele sich der der Nazis an.

Auch der Sozialphilosoph Ingo Elbe beklagt in seinem Buch „Gestalten der Gegenaufklärung“ eine „neue Qualität der Verdeckung der Präzedenzlosigkeit des Holocausts“ an der „heute ganze Abteilungen des akademischen Betriebs und viele zivilgesellschaftliche Institutionen arbeiten, stets mit der politischen Konsequenz der Delegitimierung des jüdischen Staates.“ Holocaustrelativierung und Israelfeindschaft scheinen stets zusammenzugehören, und der Kampf gegen die Juden ist nicht mit dem NS beendet worden.

Dieser Neuaufguss der Singularitätsdebatte wird mittlerweile als Historikerstreit 2.0 bezeichnet, nur mit umgekehrten Vorzeichen: Postkoloniale Theoretiker:inner behaupten zum einen ähnlich wie Nolte, den Holocaust hätte es ohne die rassistischen Verbrechen des Kolonialismus nicht gegeben. Zum anderen wird eine neue Variante der Judenknax-These verbreitet: Weil die Deutschen auf den Holocaust fixiert seien, würde vom Gedenken an den Judenmord die Aufarbeitung des Kolonialismus verdeckt.

 

Die Beispiellosigkeit der Shoa

 

Bevor es im zweiten Teil spezifischer darum gehen wird wie die Singularität der Shoa im einzelnen bestritten wird, soll hier erst die Frage beantwortet werden, worin die Beispiellosigkeit des Holocausts liegt.

Sie liegt nicht, auch wenn deutsche Politiker:innen das so auswendig gelernt haben, in der Anzahl der Ermordeten oder in der industriellen Art des Mordens. Die Zahl der getöteten Sowjetbürger:innen übersteigt die der ermordeten Juden um ein vielfaches und mehr als 40 Prozent der jüdischen Opfer wurden von den Einsatzgruppen am Rand von Gruben und Gräben erschossen, wie Gerber ausführt.

Die Singularität liegt, wie der Israelische Historiker Yehuda Bauer in seiner grundlegenden Arbeit „Die dunkle Seite der Geschichte“ ausführt, zum einen darin, dass alle Genozide vor und nach dem NS von lokaler Natur gewesen seien. Die Nazis hatten jeden einzelnen Juden auf der ganzen Welt im Visier. Zum anderen sei die das Morden antreibende NS-Ideologie „völlig unpragmatisch und irrational.“ Anders die Motivationen bei jedem anderen Genozid. Beim Genozid an den Armeniern beispielsweise und jedem noch so brutalen Kolonialverbrechen spielten stets pragmatische Zwecke eine Rolle: Landnahme, Raub von Vermögen, wirtschaftliche Macht, so Bauer. Beim Holocaust spielten diese Motive nur eine randständige Rolle und Raub von Vermögen sei eine Folge, nicht die Ursache des Mordens gewesen. Der Historiker Saul Friedländer spricht in diesem Zusammenhang davon, dass es im Vergleich zu Stalins Morden bei der Vernichtung kein höheres Ziel gegeben habe. Die Vernichtung der Juden war das Ziel, von der sich die Nazis die „Reinigung der (kapitalistischen) Volksgemeinschaft von ihren abstrakten und konflikthaften Momenten“ und die Realisierung völkischer Einheit versprachen, so Elbe.

Dass es beim Holocaust nur um die Ermordung und nicht um die Ausbeutung von Jüdinnen und Juden ging, betont auch Jean Améry, der Auschwitz überlebt hat. Er schreibt in seinem Text „Im Warteraum des Todes“ die von Friedländer und Yehuda konstatierte Spezifik des Holocausts bestätigend, dass der Kolonialherr zum Zwecke der Ausbeutung zwar entmensche und dabei seinem Arbeitssklaven alles nehme, ihm aber das Leben zur Ausbeutung belasse. „Für den Nazi dagegen hatte der Tod des Juden, hatte die Endlösung die unangezweifelte Priorität vor der Ausbeutung. Man ließ die Ghetto-Juden arbeiten, bis sie krepierten: aber entscheidend war nicht ihre Arbeit, sondern ihr Tod.“

 

Der Zivilisationsbruch

 

Lässt sich in anderen Menschheitsverbrechen also noch instrumentelle Vernunft nachweisen, die die Welt und Menschen nach Maßgabe nach Nützlichkeit betrachtet, so gehöre deren Abwesenheit zur Spezifik des Holocausts. Er war kein Profit-, sondern ein „Zuschussgeschäft“, die „Arisierung, der Raub und die Sklavenarbeit (...) deckten kaum die Kosten der Lager und des logistischen Aufwands, mit dem Juden aus allen Teilen Europas an die Vernichtungsstätten transportiert wurden“, so Gerber.

Schließlich, wie Gerber und der Historiker Dan Diner zum Begriff der Singularität abschließend ausführen, habe der „Vernichtungsdrang“ sogar den Selbsterhaltungstrieb der Täter:innen außer Kraft gesetzt. Für die Vernichtung der Jüdinnen und Juden nahm man den eigenen Untergang in Kauf. Aufgrund dieser selbstmörderischen Dimension, in der sich irrationaler Wahn und rationale Momente verschränken, spricht der Historiker Dan Diner auch von einem „Zivilisationsbruch.“

Das unterschiedslose Abschlachten aller Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt war also keine barbarische Methode zur Eroberung von Absatzmärkten und Akkumulation von Reichtum. Es war vielmehr Ausdruck einer in die Krise geratenen und an der Produktionsweise ihres Reichtums ohnmächtig und irre gewordenen Gesellschaft: Die Vernichtung diente der barbarischen Ersatzbefriedigung „in der imaginären Kompensation gesellschaftlich produzierter Ohnmacht durch bedinglose Identifikation mit der Volksgemeinschaft und durch projektive Abwehr innerer Konflikte mittels der Feinderklärung gegenüber der Juden“, so Elbe. - Die Singularität des Holocaust begründet sich über die Zentralität des eliminatorischen Erlösungsantisemitismus im NS.

 

Lesen Sie hier wie die Singularität von Achille Mbembe infrage gestellt wird.


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