Seitenlogo
Patrick Viol

Kommentar: Die Mobilisierung der Krankheit auf dem Boden der Gesundheit

Patrick Viol kritisiert die Politik des "gesunden Menschenverstandes" der Union gegen die  "Verbotskultur" der Ampel als ideologisch und gefährlich.

Auf dem Boden der herrschenden Gesundheit liegt die Krankheit der Gesellschaft.

Auf dem Boden der herrschenden Gesundheit liegt die Krankheit der Gesellschaft.

Bild: Josef Trattner Weinbild

Nach der Definition der WHO sei ein Mensch psychisch gesund, der seine Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu seiner Gemeinschaft leisten kann. Den Maßstab zur Bewertung dessen, was psychisch gesund ist, liefert also die strukturelle Einrichtung der Gesellschaft - psychische Gesundheit ist ein sozial-politischer Gegenstand. Das ist ziemlich offensichtlich: Was produktiv ist und welche Lebensbelastungen die Menschen bewerkstelligen müssen, entscheidet nicht der Einzelne, sondern die Gesellschaft. Es herrscht allgemeiner Produktivitätszwang: Produktiv ist, wessen Arbeitsprodukt auf dem Markt erfolgreich getauscht wird. Egal, ob selbstständig oder angestellt. Und wer in einer Gesellschaft, in der die meisten 38 Stunden oder mehr die Woche arbeiten müssen, sagt, er könne oder wolle nur 8 Stunden arbeiten, macht sich einer psychischen Störung zumindest verdächtigt. Asozial gilt er in jedem Fall. Es muss ja jeder seinen Beitrag leisten.

Politisch ist psychische Gesundheit zum einen deshalb, weil manche Krankheitsbilder von politischen Kräfteverhältnissen und Systemen abhängen. Homosexualität z. B. galt im Westen seit dem 19. Jahrhundert bis 1990 noch als psychische Krankheit und im Iran wie in Uganda droht homosexuellen Männern die Todesstrafe.

Zum anderen wird mit psychischer Gesundheit Politik gemacht. Besonders tut sich dabei aktuell die CDU/CSU hervor: Anders als die AfD, die platt von einer Politik für „normale Menschen“ faselt, bringt die Union ihre Psychopolitik mit dem Anschein abendländischer Philosophie unters Volk und fordert eine Politik des „gesunden Menschenverstandes“, wie es auf der Homepage der Bundestagsfraktion unter der Überschrift „Anreize statt Verbote“ steht.

Die CDU inszeniert sich derzeit als Kämpferin gegen eine von ihr konstatierte pathologische „Verbotskultur“ der Ampel im Namen des „mündigen Bürgers“. Auch wenn es sympathisch ist, gegen eine Politik zu polemisieren, die für den Klimaschutz zu sehr auf die Regulierung des Privatlebens abhebt, um - wie die neuen Kabinettsbeschlüsse zeigen - die klimapolitische Arbeitsverweigerung von Verbrenner-Volker Wissing zu kompensieren -: Die sich in der Gesellschaft verfangende Polemik der CDU gegen Verbote schlechthin ist eine ideologische und gefährliche Mogelpackung, auf die man nicht reinfallen sollte.

Zum einen ist gesunder Menschenverstand nicht die Grundlage von Mündigkeit. Die Philosophen der letzteren haben die Kritik des ersteren stets ins Zentrum ihrer Kritik gestellt, weil er daran krankt, das Zufällige für notwendig zu halten; weil er, wie Hegel schreibt, ein „bewusstloses Urteilen“ ist, das auf bloß „Gemeintem“ basiert und daher eine Form „geistiger Beschränktheit“ darstellt. Zum anderen ist die CDU nicht gegen Verbote allgemein, hat sie doch gerade eine gesetzliche Einschränkung des Streikrechts in die politische Debatte gebracht. Und gegen das Verbot von Kinderarbeit, Kinderehen, Werbung für Abtreibung ist sie doch auch.

Die Verbote, die die Union kritisiert, sind jene, die Dinge betreffen, die der allgemeine und wahre Freiheit verunmöglichende Produktivitätszwang den Menschen übrig lässt: Konsumieren, Gärtnern oder Autofahren.

Das zeigt sich z. B. daran, dass die CDU Osterholz in der Kontrolle von Steingärten einen Überwachungsstaat heraufziehen sieht. Die Freiheit, die die CDU mit ihrer Polemik gegen Verbote verteidigt, ist die eingeschränkte und von Verzicht verstümmelte, aber - um in unserer Gesellschaft produktiv und psychisch gesund zu sein - nichtsdestotrotz mit psychischer Energie positiv besetzte. Das heißt aber auch: Mit ihrer Politik des gesunden Menschenverstandes treibt die Union die Krankheit voran, die auf dem Boden der psychischen Gesundheit liegt: das leidvolle Missverhältnis zwischen produktiver Lebensführung und vernünftiger Bestimmung des Lebens. Das ist gefährlich, weil die Aggressivität, die die positive Besetzung der eigenen Einschränkung erfordert, sich jederzeit gegen die vermeintlich Kranken zu entladen droht. Lkw-Fahrer, die Klimaaktivisten vermöbeln, anstatt gegen den Druck, den ihnen die Spedition macht, zu rebellieren, geben ein Bild davon ab, was eine solche Entladung bedeutet.


UNTERNEHMEN DER REGION