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Tom Boyer

From London

London. Unser freier Mitarbeiter Tom Boyer absolviert nach seinem Abi einen einjährigen Freiwilligendienst in London und schreibt nun eine Kolumne darüber.

„Mein Hörgerät hat nicht mehr funktioniert und weil Freitag war, hätte ich das ganze Wochenende nicht mehr richtig hören können. Also habe ich beim Arzt angerufen und nach einem Termin für den heutigen Tag gebeten. Sie haben mich auf nächste vertröstet. Ich bin trotzdem hingegangen und habe meine Situation nochmals geschildert und mich anschließend so lange ins Wartezimmer gesetzt, bis die Ärztin das Gerät neu eingestellt hat - das hat höchstens fünf Minuten gedauert.“ Das erzählt mir Frank, als wir uns das letzte Mal gegenübersitzen, bevor es für mich zurück nach Deutschland geht.

Vielen von uns ist es schon einmal aufgefallen: Besonders ältere Menschen lassen sich mit ihren Anliegen oft nicht mehr so einfach abwimmeln. Sie sind entschieden lassen sich nicht so einfach beirren. Vielleicht mit dem Gedanken: „Ich habe nur dieses eine Leben, ich will so intensiv leben, wie ich nur kann. Solange ich es noch kann.“ Doch oft kommt dieser Gedanke erst sehr spät. Das kann uns in prekäre Situationen bringen: Wir laufen so Gefahr, unser Leben zu wenig zu leben, unsere Grenzen zu wenig auszudehnen und unsere Möglichkeiten zu wenig zu entfalten. Auch Frank lebte so. Er habe viele seiner Entscheidungen in 96 Jahren so getroffen, dass sie möglichst niemandem zuwider sind.

„Früher wäre ich nicht so für meinen Willen eingestanden, wie da beim Arzt. Ich wollte halt einfach nicht das ganze Wochenende taub sein. Hat ja auch geklappt.“ Beim Reden schenkt er mir so ein warmes und mitreißendes Lächeln, wie es auch auf dem Bild von vor Jahrzehnten auf der Fensterbank zu sehen ist. „Oft habe ich Dinge nicht getan, wenn ich damit irgendwelchen Leuten missfallen wäre, die mir nicht mal nahestehen. Selbst heute gehe ich oft nur raus, wenn ich gute Laune habe und mir nach Lächeln ist. Ich meine, ich war mein ganzes Leben der, der stets gestrahlt hat. Sonst würden jetzt alle fragen: `Oh Frank, ist alles gut bei dir? ´ - `Ja, natürlich ist es das! Ich habe heute einfach keinen Bock zu lächeln´ sollte meine Antwort dann eigentlich sein.“

Auf andere Menschen achtzugeben und sie zu respektieren, ist unvermeidlich, will man ein zufriedenes Umfeld haben und selbst glücklich sein. Doch die Gefahr, dass man zu abhängig von der Bestätigung anderer Menschen wird, stets versucht, jeglichem negativen Urteil zu entgehen und sich jeder Forderung zu beugen, ist dauernd da. So war es bei Frank auch eine lange Zeit. Irgendwann überschreitet man diese entscheidende Linie und trifft viele Entscheidungen nicht mehr, weil man sie selber für richtig hält oder etwas mit Bestimmtheit machen möchte, sondern weil man denkt, dass man etwas machen muss, weil es andere von einem erwarten. Dann findet man sich damit ab, eben die Person zu sein, die immer lächelt und Witze reißt. Oder die Person, die immer hilfsbereit ist. Oder die Person, die immer den richtigen Ratschlag parat hat.

Ich denke, jeder sollte lernen, diese Linie zu erkennen und die Personen in seinem Umfeld danach identifizieren, auf welcher Seite der Linie sie sich befinden. Denn nur dann kann man wissen, wen man unterstützt und wem man entgegenkommt - mit der Gewissheit, dass man das Gleiche von der anderen Person erwarten kann. Und welchen Personen man nicht alles recht machen kann bzw. muss. Für die sich zu engagieren bedeutet, sich langsam selbst aufzugeben. So wird es auf jeden Fall richtig sein, das Lächeln beim Arzt gegen eine ernstere Miene auszutauschen - für die eigene Gesundheit.


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