

Ob ein Buch uns berührt, hängt davon ab, in welcher Gesellschaft wir leben – und was dieses Buch darüber ausdrückt. Das Ende von Winnie Puh zum Beispiel, es ist traurig und schön zugleich: Christopher Robin verabschiedet sich von seinen Freunden im Zauberwald, weil er in die Schule kommt. Doch der Autor tröstet – er schreibt, dass es immer ein Kind geben wird, das mit seinem Bären spielt.
Dieses Ende wirkt deshalb so stark, weil es Menschen an zwei Dinge erinnert: an den Schmerz, dass man den Eintritt in die Welt gesellschaftlicher Erziehungs- und Disziplinierungsinstitutionen mit dem Verlust der kindlichen Fantasiewelt und des freien Spiels bezahlt – und daran, dass etwas davon verschüttet im Unbewussten des Erwachsenen weiterlebt.
Doch bald könnte dieses Ende der Geschichte über Christopher Robin und seine Freunde nur noch wie kitschiger Unsinn wirken – denn es als berührend, melancholisch und hoffnungsvoll zu erfahren hat zur Voraussetzung, dass man selbst eine lange Zeit im Zauberwald mit seinen Freunden gespielt hat. Das Smartphone aber ist mittlerweile zum digitalen Türsteher am Eingang zum Zauberwald geworden, dessen Türpolitik immer rigoroser wird.
EINGESCHRÄNKTES VORSTELLUNGSVERMÖGEN
So ließen sich zugespitzt die kritischen Erkenntnisse aus der Forschung zum Zusammenhang von ästhetischer Entwicklung und zunehmender Smartphone-Nutzung von Kindern unter 10 Jahren umschreiben, die in den letzten Jahren vermehrt veröffentlicht wurden.
So warnt zum Beispiel der Neurowissenschaftler und Psychiater Prof. Dr. Manfred Spitzer vom Universitätsklinikum Ulm in seinem Buch „Digitale Demenz“ davor, dass übermäßiger Medienkonsum die Fähigkeit zum kreativen Denken beeinträchtigen kann. Kinder würden zunehmend fremdbestimmte Inhalte aufnehmen, anstatt selbst Geschichten, Szenen oder Bilder im Kopf zu entwickeln.
Die mögliche Beeinträchtigung kreativen Denkens gehe vor allem von Social Media aus, das mit einem „Aufmerksamkeitszapping“ als Effekt dauerhafter Reizüberflutung durch kurze Clips (TikTok, Reels etc.) einhergehe. Dieses Verhalten unterdrücke Tagträumen – ein mentaler Zustand, der nachweislich mit Kreativität und Imaginationskraft verbunden ist.
Problematisch an der Smartphone-Nutzung sei aber nicht nur der direkte Einfluss der Bilderflut: Der Leibniz-Forschungsverbund Bildungspotenziale betont beispielsweise, dass Kreativität auch durch multisensorische und körperliche Erfahrungen entstehe. Wenn sich die Erfahrungswelt von Kindern zunehmend auf Displays reduziert, fehlten haptische, auditive und kinästhetische Reize, die Fantasie anregen.
RAUBFISCH IM KINDERZIMMER
Übermäßige Smartphone-Nutzung wirke sich aber nicht nur negativ auf das Vorstellungsvermögen aus. Sie kann auch psychische und physische Effekte zeitigen: Der Hirnforscher Martin Korte weist daraufhin, das intensive Smartphone-Nutzung die Verschaltungswege im Gehirn verändern und zu einer Verschlechterung der Gedächtnisleistung führen kann.
Eine Studie des King‘s College London zeigt, dass Jugendliche mit problematischer Smartphone-Nutzung ein erhöhtes Risiko für Angstzustände, Depressionen und Schlaflosigkeit aufwiesen. Eine aktuelle OECD-Studie aus dem Mai 2025 warnt ebenso vor möglichen Folgen wie Depressionen, aber auch vor einem ungesunden Körperbild und Einsamkeit durch übermäßigen digitalen Konsum. Und die MoMo 2.0-Studie legt dar, dass Kinder und Jugendliche in Deutschland heute deutlich weniger fit seien als noch vor einigen Jahren, was auf höhere Bildschirmzeit zurückgeführt wird.
In Anbetracht dieser Fülle problematischer Erkenntnisse wundert es nicht, das Dr. Paula Bleckmann, Professorin für Medienpädagogik, das Smartphone als einen Raubfisch bezeichnet, der - in das bunte und lebendige Aquarium des Lebens der Kinder gesetzt - das Potenzial habe, alle anderen Lust und Freude machenden Aktivitäten der Kinder gewissermaßen aufzufressen, um am Ende allein übrig zu bleiben. Daher schlussfolgert sie „Kinder sollten stark im Leben verankert sein, bevor sie ein Smartphone nutzen“, sagt Bleckmann.
HANDYVERBOT AN SCHULEN
Und um diese Verankerung zu gewährleisten, haben nun einige Bundesländer, wie z.B. Bremen, die Nutzung von Smartphones an Grundschulen und in der Sekundarstufe 1 verboten.
Handys müssen hier ab dem 1. Juni ausgeschaltet in der Tasche bleiben, Aufsichtspersonen sollen kontrollieren, ob die Schüler sich daran halten. Die Regelung gilt für Grundschüler und an weiterführenden Schulen bis einschließlich zur 10. Klasse. In den Oberstufen der Stadt können die Schulen selbst entscheiden, wie sie mit der Smartphone-Nutzung ihrer Schüler verfahren. Bundesweit gelten in Sachen Handyverbot an Schulen unterschiedliche Regelungen. SPD und Grüne in Niedersachsen setzen hingegen in einem Antrag an die Landesregierung auf eigenverantwortliche Lösungen.
SCHULLEITER PRO VERBOT
Wie also wird die Smartphone-Nutzung vor Ort gesehen und wie steht man zu einem Verbot?
Für Malte Müller-Cordes, kommissarischer Schulleiter der Grundschule Bremervörde, sind Smartphones und Smartwatches im Schulalltag vor allem eines: ein wachsender Störfaktor. Auch wenn einige Kinder verantwortungsvoll mit der Technik umgehen, sieht Müller-Cordes ein grundsätzliches Problem: „Für pädagogisch sinnvoll halte ich ein Handy im Grundschulalter nicht.“ Die Geräte seien zu komplex und würden „von außen in die Schule gegeben“. Kritisch sei vor allem der unkontrollierte Zugriff – etwa auf WhatsApp, TikTok oder Snapchat.
Für ihn steht fest: Heranwachsende – nicht Kinder – müssten schrittweise an die digitale Welt herangeführt werden. Neben den Schulen seien hier in erster Linie auch die Eltern gefordert. Mit Blick auf den schulischen Rahmen wünscht sich Müller-Cordes klare gesetzliche Vorgaben. Ein generelles Verbot digitaler Endgeräte an Grundschulen würde aus seiner Sicht helfen, verbindliche Regeln zu schaffen, an die sich auch Eltern halten müssten. Sein Appell: „In dem Zusammenhang würde ich mir ein klares Statement (Verbot) der Landesregierung wünschen.“
Auch Dr. Denis Ugurcu, Schulleiter des Gymnasiums Lilienthal, spricht sich für eine landeseinheitliche Regelung aus – und gegen Smartphones im Schulkontext. „Die Verführungskraft dieser Geräte ist schlicht zu groß – insbesondere für Kinder und Jugendliche, deren Medienkompetenz sich noch im Aufbau befindet“, warnt er. Ständige Erreichbarkeit, Ablenkung, Leistungsdruck durch soziale Medien, Mobbing und zunehmende Täuschungsversuche durch KI-Anwendungen belasteten den Schulalltag. Er nennt drastische Beispiele aus der Unterstufe: „Was Kinder bereits in der 5. und 6. Klasse über soziale Netzwerke, Pornografie oder Gewaltvideos berichten, hat mir persönlich Tränen in die Augen getrieben.“ Smartphones in Kinderhand bedeuteten oft Überforderung – und Schule müsse ein geschützter Raum bleiben. „Ein landesweit einheitliches Verbot könnte aus unserer Sicht zu einer spürbaren Entlastung beitragen – sowohl für Lehrkräfte als auch für Schülerinnen, Schüler und deren Eltern.“
LEHRER SEHEN PROBLEMATISCHE ENTWICKLUNG
Rückendeckung erhalten die Schulleiter auch aus der Lehrerschaft. Fritz Böhm, Sprecher des Kreisverbands Osterholz der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), bestätigt: „Viele Schüler:innen werden durch Nachrichten auf dem Gerät abgelenkt – die Konzentration auf den Unterricht leidet.“ Aber nicht nur der Unterricht werde beeinträchtigt, auch die Pausen litten. Hier dominiere zunehmend der Rückzug ins Smartphone. Soziale Interaktion werde ersetzt durch kurze Videos, die die Erholung eher behinderten als förderten. „Wir halten diese Entwicklung für problematisch.“ Böhm betont jedoch: Ein Verbot allein reiche aber nicht aus: „Die Schulen müssen Regelungen auch durchsetzen können – dafür braucht es klare Handlungsmöglichkeiten vom Kultusministerium.“ Die GEW begrüßt, dass das Problem inzwischen erkannt wurde, fordert aber mehr Unterstützung vom Land. „Nun sind alle, die an der Erziehung der jungen Menschen beteiligt sind, gefordert, handhabbare Lösungen zu erarbeiten.“
ELTERN UND SCHÜLER DIFFERENZIEREN
Unentschiedener fällt die Einschätzung der Elternseite aus. Marlen Heidmann, stellvertretende Vorsitzende des Kreiselternrats Osterholz, betont, dass es kein einheitliches Meinungsbild gebe. Während Eltern an Grundschulen ein Verbot eher befürworten, sei in weiterführenden Schulen mehr Differenzierung gefragt „Ein Verbot würde nur Neugier, Rebellion und Bevormundung schüren“, warnt sie. Eltern sähen sich in einer Lernkooperation mit den Lehrkräften – beim Vermitteln von Medienkompetenz. Dabei gehe es nicht nur um Verbote, sondern auch um „Aufzeigen der Vorteile und Gefahren“ und das „Sensibilisieren für einen verantwortungsvollen Umgang“. Eine altersgestaffelte, stark eingeschränkte Nutzung könne ein gangbarer Weg sein.
Auch der Kreisschülerrat Osterholz lehnt ein pauschales Verbot ab: „Ein generelles Verbot der Handynutzung in der Schule wird von vielen Schülern eher als Bevormundung empfunden“, heißt es aus der Schülerschaft. Das Smartphone gehöre für viele längst selbstverständlich zum Schulalltag – zur Organisation, zur Kommunikation, auch zur Recherche.
Probleme wie Ablenkung, Mobbing oder Leistungsdruck erkennen die Schüler durchaus – sehen die Ursache aber nicht im Gerät selbst, sondern im einem unreflektierten und falschen Umgang damit. „Diese Themen lassen sich durch pädagogische Maßnahmen angehen – etwa durch Aufklärung, Medienbildung, klare Regeln im Klassenverband und ein respektvolles Miteinander.“ Ein Verbot löse nichts, es verlagere die Probleme lediglich aus dem Schulgelände heraus.
Stattdessen schlägt der Kreisschülerrat eine pragmatische Lösung vor: keine private Nutzung im Unterricht, aber gezielter Einsatz zu Lernzwecken. In Pausen könne Nutzung erlaubt sein – solange Rücksicht auf andere genommen werde. Wichtig sei ein Regelwerk, „das gemeinsam mit allen Beteiligten entwickelt wird – auch mit uns Schülern“. Schule solle schließlich auch ein Ort sein, an dem „verantwortungsvoller Umgang mit digitalen Medien eingeübt und gefördert wird“.
Es zeigt sich: Alle sehen Probleme, doch gestritten wird darüber, wie man sie angehen kann. Übereinstimmung herrscht aber in der Überzeugung, dass ein verantwortungsvoller Umgang mit dem Smartphone erlernt werden müsse.
Und wie das in der Schule gelingt hängt auch davon ab, wie Eltern mit ihren Smartphones zu Hause umgehen. Denn wie Forschende der University of Wollongong in Australien darlegen, zeigen Kinder, deren Eltern häufig am Smartphone hängen, geringere kognitive Fähigkeiten, eher emotionale Probleme sowie Verhaltensprobleme und verhielten sich weniger sozial. Auch die Sprachentwicklung leide. Außerdem hätten diese Kinder eine insgesamt schwächere Bindung an ihre Eltern und verbrächten selbst viel Zeit vor Bildschirmen. Die übermäßige Handynutzung der Eltern spiele für Kleinkinder wie für ältere Kinder eine Rolle. Das sei vielen Eltern gar nicht bewusst. Was also tun?
Medienpädagogikprofessorin Bleckmann rät den Medienkonsum realistisch zu betrachten, denn „an dem Perfektionsanspruch, zu den Wachzeiten ihres Kinder niemals digital abgelenkt zu sein, würden fast alle scheitern“. „Kinder brauchen keine perfekten Eltern, sondern Eltern, die eigene Bedürfnisse und kindliche Bedürfnisse klug ausbalancieren“, betont sie