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Lena Stehr und Patrick Viol

Kirche in der Krise?

Nicht nur der katholischen Kirche laufen die Schäfchen davon, auch die protestantische Kirche verzeichnet geringere Mitgliederzahlen.

Bild: Darryl Brooks

Die Kirche muss raus auf die digitale Straße, dorthin, wo sich viele Menschen aufhalten - in den sozialen Medien. Die Landeskirche Hannovers baut deshalb jetzt ihre Social-Media-Arbeit aus und stellt für die kommenden zwei Jahre insgesamt 560.000 Euro zur Verfügung, um die Arbeit von Kirchenpersonal in diesem Bereich zu unterstützen. Den digitalen Weg beschritten haben bereits die Pastoren Christopher Schlicht (@wynschkind) und Max Bode (@pynk_pastor) aus Bremerhaven. Zusammen haben die beiden schon mehr als 10.000 Follower:innen auf Instagram, wo sie unter anderem Live-Chats bei Gottesdiensten und Online-Trauerfeiern anbieten sowie auf Anfrage auch mal einen Segen per Videobotschaft verschicken. Kirche digital kann funktionieren.

 

Die bloßen Zahlen

 

Mit solch niedrigschwelligen Angeboten, für die Gemeindegrenzen keine Rolle spielen, reagiert die Kirche auch auf den zunehmenden Mitgliederschwund. Die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannover hat z. B. 2021 58.043 Mitglieder verloren. Ebenso gingen in den Kirchenkreisen Bremervörde-Zeven und Osterholz die Mitgliederzahlen zurück, in Bremervörde-Zeven von 49.589 in 2019 auf aktuell 45.881 sowie in Osterholz von 50.687 im Jahr 2019 auf aktuell 46.954.

 

Alle Hände voll zu tun

 

Spielen Kirche, Glauben und Religion also eine abnehmende Rolle im Leben der Menschen? Steckt die Kirche in einer Krise?

Die Osterholzer Superintendentin Jutta Rühlemann gibt eine differenzierte Antwort. Die Zahlen ließen keinen unmittelbaren Rückschluss auf eine spezifische Krise der Institution der evangelischen Kirche zu und erst recht nicht darauf, dass den Menschen Religion und der Glaube an einen gütigen Gott weniger wichtig seien. Zum einen hätten - bedingt durch eine Zunahme an Alltagsanstrengungen und allgemeiner Skepsis gegenüber Institutionen - vom Sportverein bis zum Ehrenamt alle gesellschaftlichen Einrichtungen mit Mitgliederschwund zu kämpfen.

Zum anderen seien die Gründe für den Mitgliederschwund vielfältig. Mitglieder sterben, es gibt weniger Geburten und manche treten aus der Kirche aus, weil sie die Kirchensteuer sparen müssen. Die Zahlen spiegeln also nicht direkt das Verhältnis der Menschen zu Kirche und Glauben wieder. Gleichzeitig seien die Erwartungen der Mitglieder an Kirche gestiegen. Ob nun bei der Telefonseelsorge, im Hospizdienst oder bei der Tafel - die Menschen erwarten nicht zuletzt aufgrund gestiegener Not und unsicheren gesellschaftlichen Verhältnissen, dass die Kirche ihre diakonischen Aufgaben in vollem Umfang erfüllt. Entsprechend sagt Rühlemann: „Wir haben alle Hände voll zu tun.“

 

Vielfältige Formate

 

Auch Pastor Kristian Goletz aus Bremervörde-Bevern will nicht von einer „Kirche in der Krise“ sprechen. Dabei verweist er darauf, dass auch die höhren Mitgliederzahlen aus der Vergangenheit nicht direkt auf eine größere Verankerung der Kirche in der Bevölkerung schließen ließen. Denn Mitglied in der Kirche zu sein und sonntags den Gottesdienst zu besuchen, habe in vergangenen, weniger individualistischen Zeiten auch aus nachbarschaftlichem Druck erfolgen können.

Nichtsdestotrotz verändern sich die Lebenswelten und Ausdrucksformen von Sorgen und Bedürfnissen der Menschen, auf die Kirche reagieren muss. Anstatt also auf die nackten Mitgliederzahlen zu gucken, gehe es für Goletz darum, die Zukunft der Kirche, die sich schon immer im Wandel befunden habe, aktiv zu gestalten. So gibt es im Osterholzer Kirchkreis z. B. neben dem klassischen Sonntagsgottesdienst eine Vielzahl anderer Formate, die musikalisch bunter und kürzer seien und spezielle Zielgruppen ansprechen, so Rühlemann. Einen Valentinstaggottesdienst oder die Gottesdienste im Grünen nennt sie als Beispiele. Diese Formate seien gut besucht.

Gut besuchte Gottesdienste wünscht sich auch Goletz, weshalb er gemeinsam mit Diakon Michael Freitag-Parey als sogenannter Multiplikator im Zukunftsprozess der Landeskirche im Kirchenkreis Bremervörde-Zeven tätig ist. Zudem ist Goletz‘ Gemeinde eine von drei Kirchengemeinden in Niedersachsen, die in das Pilotprojekt „Kirche und Kommune“ aufgenommen wurde, bei dem es unter anderem um die Vernetzung von Kirche und Vereinen geht. Wichtig sei, für die Menschen vor Ort da zu sein, egal ob es sich um Mitglieder handele oder nicht. „Wir wollen Hoffnung geben und die Menschen ermutigen, ihr Dorf und die Welt mitzugestalten“, sagt Goletz.

 

Die emanzipatorische Kraft

 

Hoffnung geben - das will auch Rühlemann. Denn anders als die Kirche stecke die Gesellschaft in einer Krise: Krieg, wachsende Ungerechtigkeiten und zunehmende Unverbindlichkeit unter den Menschen schafften konkretes Leiden. Dem begegnet Rühlemann mit einer Erinnerung an die von Gott gegebene Freiheit, aus der heraus wir aber Verantwortung unter Absehung auf den bloß eigenen Vorteil für andere und die dringlichen Themen unserer Zeit übernehmen müssen.

Eine Ausrichtung auf dieses für Rühlemann genuin christliche Menschenbild sei zwar nicht immer bequem, weil es Nachdenken und Entscheidungen fordert und eine Gegenposition zum Leid bedingten, haltungslosen postmodernen „anything goes“ einnimmt. Aber dort, wo es sich in Handlungen übersetzt, sei Gott. Er sei eben nicht der über uns schwebende „Marionettenspieler“. Er sei die „emanzipatorische Kraft“ in uns, die uns Türen hin zu Frieden und Gerechtigkeit aufschlage, weil sie uns ermutige, „für das Gemeinwesen einzutreten.“ - Dort haben nicht nur alle Hände, sondern auch der menschliche Geist voll zu tun.

 

Lesen Sie hier das Interview mit Krichkreisjugendwart Christian Meyer.


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