

„Leistung lohnt sich wieder - endlich“, so Dr. Nicolas Laack angesichts der Einigung der Großen Koalition auf eine Reform des Bürgergeldes. Der Kreisvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, dem Wirtschaftsverband der CDU, sieht in der neuen „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ eine notwendige Rückkehr zum „System des Förderns und Forderns.“
Die neue Grundsicherung ist ein Baustein im Umbau des Sozialstaats. Sie verschärft Sanktionen und Mitwirkungspflichten – die Vermittlung in Arbeit hat wieder Vorrang. Praktisch heißt das: Pflichtverletzungen wie die Ablehnung eines Jobangebots, einer Weiterbildung oder eines Bewerbungstrainings sollen künftig unmittelbar mit Kürzungen von 30 Prozent der Geldleistung beantwortet werden. Wird eine Arbeitsaufnahme verweigert, entfällt die Leistung vollständig.
Wer zwei Termine beim Jobcenter versäumt, verliert 30 Prozent seiner Geldleistung. Nach dem dritten Termin entfällt sie ganz, nach dem vierten werden auch Miete und Heizkosten nicht mehr übernommen.
„Wer nicht mitmacht, wird es schwer haben“, sagte Arbeitsministerin Bärbel Bas bei der Pressekonferenz. Und fügte hinzu: „Wir verschärfen die Sanktionen bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist.“ Das sei, so Bas, auch im Interesse der arbeitenden Bevölkerung.
Vor drei Jahren klang die SPD bei der Einführung des Bürgergeldes ganz anders: Vertrauen statt Strafe, Qualifizierung statt Vermittlung um jeden Preis. Langzeitstudien zu Hartz IV zeigten, dass Zwang zwar kurzfristig Beschäftigung erzeugt - aber selten nachhaltige. Es sind Auszeiten von der Arbeitslosigkeit, kein Ausstieg.
Heute scheint das vergessen: Mit der Reform will die Bundesregierung nicht nur Geld im Sozialhaushalt sparen. „Damit wird endlich Gerechtigkeit geschafft“, so Laack.
Leistung hat sich gelohnt
Dem widersprechen Sozialverbände, Sozialarbeiter und Gewerkschaften vehement. Zum einen sei es laut Dr. Mehrdad Payandeh, Vorsitzender des DGB Niedersachsen, „falsch“ - wie Nicolas Laack es indirekt tut - zu behaupten, dass es sich aufgrund des bisherigen Bürgergeldes nicht gelohnt habe zu arbeiten. Er und seine Bremer Kollegin Miriam Bömer verweisen auf eine aktuelle Studie der Hans-Böckler-Stiftung, die eindeutig zeige: Auch wer zum Mindestlohn arbeitet, habe ein deutlich höheres verfügbares Einkommen als vergleichbare Personen, die Bürgergeld beziehen. Das gelte überall in Niedersachsen und unabhängig von der Haushaltskonstellation. In Niedersachsen habe eine alleinerziehende Frau mit einem Kind bei Vollzeitbeschäftigung zum Mindestlohn 746 Euro mehr zur Verfügung als bei Bürgergeldbezug. Bei einer Familie mit zwei Kindern beträgt der Unterschied 658 Euro.
Zudem: Leistung lohnt sich nicht, wenn andere weniger bekommen. Sie lohnt sich, wenn der Lohn fair ist und das garantieren Tarifverträge, so Bömer.
Populismus und Stigmatisierung
So fördere die Reform zum anderen auch keine Gerechtigkeit, sondern, sie „stigmatisiert, schafft Sündenböcke und bedient bisweilen übelsten Populismus“, urteilt Andreas von Glahn, Vorsitzender des Tandem Vereins in Bremervörde, wo er täglich mit Menschen in Armut und ihren täglichen Kämpfen zu tun hat.
Weder sei das Phänomen der „Totalverweigerer“ eine Belastung für den Sozialstaat noch bringe die Reform eine Entlastung so von Glahn. Aktuelle Zahlen belegen den Populismusvorwurf: nicht einmal 1 Prozent der erwerbsfähigen Bürgergeldbezieher wurden mit einer Leistungskürzung belegt und von den von Merz, Linnemann und Spahn behaupteten zweistelligen Milliarden Beträgen, die das neue System einsparen würden, sind lediglich 86 Millionen geblieben. „Eine solidarische Gesellschaft wird somit nicht gefördert“, so von Glahn.
Armut kein individuelles Problem
Und reale Probleme würde die Verschärfung des Bürgergeldes auch nicht beseitigen, so Kerstin Tack, Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Niedersachsen. Weder würde Armut bekämpft noch soziale Teilhabe oder neue berufliche Perspektiven geschaffen. „Stattdessen wird das System erneut komplizierter - Formulare, Richtlinien, Verfahren nehmen zu - wodurch die Mitarbeitenden in den Jobcentern mehr Zeit für Verwaltung aufwenden müssen und weniger Zeit für echte Begleitung bleibt“, wie Tack auf Anfrage des ANZEIGERS ausführt.
Selbstverständlich müsse der Staat sicherstellen, dass Sozialsysteme nicht ausgenutzt werden. „Aber er darf Menschen nicht unter Generalverdacht stellen. Armut ist kein individuelles Problem – sie ist ein gesellschaftliches.“ In Niedersachsen leben laut einer aktuellen Untersuchung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands 21,8 % der Menschen (rund 1,73 Mio.) in Armut, wenn Wohnkosten berücksichtigt werden – das sind über 500.000 Menschen mehr, als in der regulären Armutsstatistik angenommen. Von Armut betroffen sind besonders Alleinerziehende (36 %), Alleinlebende (37,6 %) und alleinlebende Rentner (41,7 %).
Für sie birgt die Reform große Gefahren - z. B. Obdachlosigkeit und - so von Glahn - gravierende psychische Belastungen.
Nicht im Interesse der Arbeitnehmer
Negativ wirke sich die Reform auch auf Arbeitnehmer aus. „Die hart erarbeiteten Sozialleistungen der Beschäftigten werden attackiert und gleichzeitig wird von ihnen erwartet, dass sie mehr arbeiten sollen – und im Zweifelsfall sollen sich die Beschäftigten dann damit abfinden, dass sie ihren Job verlieren“, so Bömer.
Zudem verschlechtert die Reform die Verhandlungsbedingungen der Gewerkschaften: Wer Erwerbslose mit Sanktionen unter Druck setzt, jeden Job anzunehmen, schwächt die Verhandlungsmacht aller Beschäftigten: Unternehmen können leichter Löhne drücken, weil die Angst vor sozialem Abstieg wächst. Wenn der Sozialstaat nicht ausreichend absichert, verlieren Gewerkschaften an Rückhalt - und Beschäftigte an Sicherheit, sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu wehren.
Entsprechend haben die Gewerkschaften bereits mit Streiks gedroht - in Solidarität mit den Erwerbslosen und im Bündnis mit Sozialverbänden.
Faire Steuerpolitik oder Sozialneid
Wie aber soll ein Sozialstaat finanziert werden, der Chancen, Partizipation und Verteilungsgerechtigkeit schafft, finanziert werden? Für den Paritätischen ist klar: „Wer deutlich größere wirtschaftliche Spielräume hat, sollte einen fairen Anteil zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen. Aus fiskal- und gerechtigkeitspolitischer Sicht setzen wir uns als Paritätischer Niedersachsen deshalb seit langem für eine sozial gerechte Steuerpolitik ein, die hohe Einkommen und große Vermögen stärker in die Verantwortung nimmt. So würde eine faire Lastenverteilung erreicht und die Finanzierung der sozialen Infrastruktur gesichert“, so Tack.
Und von Glahn ergänzt: „Wenn allerdings der Hinweis auf eine schreiende Ungerechtigkeit im Rahmen der Vermögensverteilung in unserem Land immer sofort abgetan wird als ‚linke Spinnerei‘ oder als Gefährdung unseres Wohlstandes, ja dann haben wir ganz offenbar ein Problem.“
Bei der Bevölkerung trifft die Reform hingegen auf Zustimmung. 63 Prozent befürworten sie. Das sagt aber weder etwas über ihre ökonomische, rechtliche oder ethische Richtigkeit aus. Die breite Zustimmung zeigt vielmehr das Kalkül der Regierung, ihre Wähler hinsichtlich Bürgergeldempfänger belogen und aufgehetzt zu haben: Sie will die AfD vom selbst angeheizten Sozialneid nicht allein profitieren sehen.


