

Wenn über Armut und „Arbeitsverweigerung“ gesprochen wird, sitzen selten jene mit am Tisch, denen man den Vorwurf macht und die Armut täglich erfahren. Andreas von Glahn, Leiter des Vereins „Tandem“ für soziale Teilhabe in Bremervörde, erlebt dagegen in seiner Arbeit mit armutsbetroffenen Menschen unmittelbar, was der politische Druck auf die Schwächsten der Gesellschaft bewirken. „Erschreckenderweise, aber nachvollziehbar reagieren viele mit denen wir zu tun haben in der Tat mit Resignation“, sagt er. Die geplanten Verschärfungen beim Bürgergeld – insbesondere neue Sanktionsregeln – träfen jene, die ohnehin kaum noch Kraft hätten, „weil das tägliche Überleben schon an die existentielle Substanz geht“.
Angst, Resignation – und ein Gefühl des Abgehängtseins
Von Glahn beschreibt eine Stimmung zwischen Erschöpfung und Enttäuschung. Viele seiner Klientinnen und Klienten fühlten sich „abgehängt“ und von der Politik missverstanden – berechtigterweise, so von Glahn. „Politiker sprechen sehr häufig über, aber nicht mit Menschen, gegenüber denen der Sozialstaat ein Versprechen abgibt – und kein Almosen“, sagt er. Besonders verletzend sei der pauschale Verdacht, Bürgergeldempfänger seien faul oder arbeitsunwillig. „Diese populistische Debatte hinterlässt Spuren. Sie ist zutiefst unsolidarisch und fördert Politikverdrossenheit.“
Das Narrativ von den „Totalverweigerern“, so von Glahn, sei ein Zerrbild. Die allermeisten, die auf Unterstützung angewiesen seien, kämpften täglich darum, aus ihrer Lage herauszukommen. „Schwarze Schafe gibt es überall, geschenkt. Aber wir sprechen über eine sehr kleine Gruppe – und trotzdem werden alle unter Generalverdacht gestellt.“
Strukturen statt Schuld
Wenn jemand sage, es brauche mehr Druck, um Menschen zur Arbeit zu bewegen, müsse man fragen, ob er überhaupt wisse, wovon er rede. „Er ist nicht Herr der Materie“, so von Glahn. „Er ahnt wohl auch nicht, wie groß und intensiv die Bemühungen der Jobcenter sind, wo qualifizierte Mitarbeiter meist einen tollen Job machen.“ Der Sozialarbeiter beschreibt eine Realität, in der nicht fehlender Wille, sondern strukturelle Hürden das Problem seien: psychische Belastungen, Alleinerziehendenbedingungen, gesundheitliche Einschränkungen, fehlende Kinderbetreuung.
Von Glahn lädt Kritiker ein, sich selbst ein Bild zu machen: „Ich lade jeden ein, uns zu besuchen, ins Gespräch zu kommen und sich wirklich auf die Fragen von Armut und fehlender Teilhabe einzulassen.“ Statt Druck brauche es neue Wege, um Selbstwirksamkeit zu stärken. „Wenn Unterstützung in Form innovativer Projekte gestrichen wird, statt neue Wege zu gehen, dann wird es schwierig – wir erleben das täglich.“
Der Preis des Misstrauens
Verschärfte Sanktionen brächten Menschen nicht nachhaltig in Arbeit. Sie seien sogar kontraproduktiv, da die psychischen Folgen gravierend seien. Wer ständig unter Verdacht stehe, verliere irgendwann das Vertrauen in sich und in die Gesellschaft. „Wenn man täglich nur mit dem Organisieren seines von Armut bestimmten Alltags beschäftigt ist und sich verdächtigt fühlt, faul und arbeitsscheu zu sein, dann ist es meist nicht weit her mit einem gesunden Selbstvertrauen“, sagt von Glahn.
Viele Menschen zögen sich zurück, resignierten, wendeten sich von Politik und Gesellschaft ab. „Wir verlieren Menschen in diesem Kontext“, warnt er. Der Verein Tandem versuche mit seiner Tafel und weiteren Projekten gegenzuhalten; mit Selbsthilfe und viel bürgerschaftlichem Engagement, oft auch von den Betroffenen selbst – so viel zur Totalverweigerung.
Schieflage kein Zufall
Besonders kritisch sieht von Glahn, dass die politische Debatte über „Gerechtigkeit“ geführt werde, ohne die tatsächlichen Ungleichheiten zu thematisieren. „Wenn der Hinweis auf eine schreiende Ungerechtigkeit bei der Vermögensverteilung sofort als ‚linke Spinnerei‘ abgetan wird, dann haben wir ein Problem.“ Wer sich die Zahlen ansehe, könne kaum noch an eine gerechte Gesellschaft glauben. „Wir sprechen über kaum vorstellbare Vermögenswerte in den Händen sehr weniger Menschen – und gleichzeitig über viel Armutsgefährdung und verhinderte Teilhabe für sehr viele.“
Die soziale Schieflage sei kein Zufall, sondern Folge politischer Entscheidungen. „Die derzeitige Politik schafft nicht mehr Gerechtigkeit, sie stigmatisiert, schafft Sündenböcke und bedient bisweilen übelsten Populismus“, sagt von Glahn. Anstatt Brücken zu bauen, verschärfe sie Spaltung und Armut – Kosten für den Sozialstaat. „Dies ist allerdings kein blinder Fleck, sondern gewollte Politik.“



