Seitenlogo
Sarah Lenk

Sarahs Nachtgeschichten: Tinder und der Holocaust

Nachtbeobachtungen durch die philosophische Brille, mit dunklem Witz und Kritik - unsere Kolumne von Sarah Lenk.

Bild: Wiki commons

4:35 Uhr im dunklen Herz des Internets, auf Tinder unterwegs. Die App galt lange als Schmuddelkind unter den Datingplattformen, ist aber spätestens seit der Pandemie in den Bereich der normalen Beziehungsanbahnungsmethoden gerückt.

Tinder ist ein ganz eigener Kosmos, der schwer zu beschreiben ist. Am besten lässt es sich als digitale Bar auffassen, in der aber wirklich alle sind. Was sich sonst auf verschiedenste Orte und soziale Milieus verteilt, ist dort in direkter Nachbarschaft zu finden. Ein bisschen wie der Kölner Karneval, nur ohne alles, was diesen so schrecklich macht.

Jeder ist mehr oder weniger bemüht, sich in einem guten Licht zu präsentieren. Das kann ganz verschieden ausfallen und ist dann doch erstaunlich oft derselbe Inhalt. Man hat Humor, ist weltoffen, reist gerne, geht am Wochenende gern mal aus, mag aber auch Abende auf der Couch. Ja, Tinder ist auch ein bisschen langweilig.

Und dann – dann stößt man auf sein erstes Holocaustmahnmal-Selfie Profil. Und wundert sich. Und spätestens, wenn man auf das dritte Profil stößt, das den Profilinhaber vor dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin zeigt, dann sollte man Fragen haben.

Der Einwand an dieser Stelle ist oft, dass der Erbauer des Mahnmals ja gesagt habe, dass Leute dort alles mögliche machen sollen oder dürfen. Der Künstler hat‘s erlaubt. Andererseits hat vor Jahren schon Shahak Shapira auf das doch irgendwie geschmacklose Phänomen der Holocaust-Selfies auf Instagram aufmerksam gemacht; #yolocaust.

Aber mir geht es nicht so sehr um die Frage des guten Geschmacks. Oder wie mit dem dunkelsten Punkt der bürgerlichen Gesellschaft umgegangen werden sollte. Sondern darum, dass einfach nichts so unsexy ist wie der Holocaust. Ich habe wirklich viel über diese Frage nachgedacht, aber etwas weniger sexuell erregendes will mir einfach nicht einfallen.

Wie kommt man auf die Idee, seinen ersten Eindruck mit einer Assoziation zu Auschwitz, Dachau oder Bergen-Belsen herzustellen? Ich denke an unfassbare Massen von Toten, an Haufen von Schuhen, an Schindlers Liste, an Antisemitismus, an all so etwas. Aber Lust darauf, Menschen kennenzulernen macht das nicht.

Die einzige Antwort, die irgendeinen Sinn ergibt ist, dass die Leute einfach gar nicht darüber nachdenken. Vielleicht mögen sie dieses Foto gern von sich. Vielleicht wollen sie zeigen, dass sie auch eine ernste Seite haben. Vielleicht wollen sie weltoffen und kulturbeflissen wirken. Es gibt viele Gründe.

Aber wie kann einem bei dem Gedanken: „Oh, ich habe da ja noch dieses gute Bild von mir von dem Holocaust Mahnmal“ - Wie kann einem das Wort Holocaust und dessen unsexyness nicht auffallen?

Vielleicht aus demselben Grund, aus dem heraus Männer auch dick pics für einen sexy Gesprächsanfang halten.

 


UNTERNEHMEN DER REGION