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Paula Modersohn-Becker Kunstpreis: Die Verwundbarkeit der Menschen

Worpsweder Museen zeigen die Ausstellung zum Paula Modersohn-Becker Kunstpreis, den Almut Linde mit  ihren Werken über Gewalterfahrungen gewonnen hat.

Der siebte Paula Modersohn-Becker Kunstpreis, der mittlerweile weit über die Grenzen des Landkreises hinaus bekannt ist, wurde in diesem Jahr zum ersten Mal thematisch gerahmt. Die Ausschreibung folgte dem Motto „Kunst im Aufbruch in einer Welt im Umbruch“ - also dem Motto des Langzeitprojekts der Worpsweder Museen mit dem Titel „Zeitenwende“. Mit diesem Projekt gehen die Worpsweder Museen in den Jahren 2022 bis 2027 der Frage nach, wie sich die Rolle und Verantwortung von Kunst und Kultur angesichts aktueller globaler Herausforderungen verändert.

Die Ausstellung des Kunstpreises präsentiert die Werke der acht für den Hauptpreis nominierten Künstler:innen und die Werke der beiden Gewinnerinnen des Nachwuchs- und Sonderpreises im Barkenhoff und der Großen Kunstschau in Worpswede. Kuratiert wurde die Ausstellung von Beate C. Arnold, wissenschaftliche Leiterin des Barkenhoff und künstlerische Leiterin der Großen Kunstschau, gemeinsam mit ihrer Kollegin Manuela Husemann.

„Der Preis hat sich sichtbar weiterentwickelt“, so die anerkennenden Worte des Landrats Bernd Lütjen bei der ersten Begehung am vergangenen Donnerstag. In diesem Jahr könnten sich für den Hauptpreis Künstler:innen aus der gesamten Bundesrepublik Deutschland bewerben. Aus den über 400 Bewerber:innen hat eine hochkarätige Jury nun eine Gewinnerin für den Hauptpreis gekürt.

 

Natur und Behausung

 

Im Barkenhoff sind die Werke der Nachwuchs- und Sonderpreisträgerinnen zu sehen. Jede Position hat hier ihren eigen Raum. Die Gewinnerin des Nachwuchspreises sowie die des Sonderpreises wurden bereits in einer ersten Jury im Juni 2022 ausgewählt.

Nachwuchspreisgewinnerin Lucila Pacheco Dehne fragt in ihren Installationen auf experimentelle Weise nach der Verbindung des Menschen zu seiner Umgebung und unser aller Vergänglichkeit. Dabei findet die Künstlerin „in der reflektierten Auseinandersetzung mit Materialitäten und Arbeitsprozessen bei der Suche nach der eigenen Identität immer neue Antworten“, urteilt die Jury. Präsentiert werden zwei verschiedene Werke. Auf der einen Seite Pachecos sogenannte „Companions“ - Schuhpaare, bestehend aus der Nachbildung natürlicher Dinge wie Wirsingblättern, Wurzeln und Eis, die einerseits die Verbindung des Menschen zur Natur, aber gleichzeitig auch den Schutz vor dieser darstellen. Auf der anderen Seite findet der Betrachter ein Gewächshaus, das den Eingriff des Menschen in die Natur zeigen soll. Darin finden sich unter anderem künstliche Nachbildungen von Rippen und Zähnen, um darauf hinzuweisen, was nach dem Ableben des Menschen von ihm auf dieser Welt übrig bleibt, die wir tagtäglich verändern und im Begriff sind zu zerstören.

Über den Sonderpreis darf sich Katrin Schütte aus Osterholz-Scharmbeck freuen, die sich in ihren Arbeiten der Behausung von Menschen als Symbol für Heimat, sichere Hülle und Gerüst unseres Lebens widmet. Sie stellt sich auflösende Gebäude zur Schau und setzt sich dabei einmal mehr mit Herausforderungen und Problemen der heutigen Welt - wie Flucht und Heimatlosigkeit - auseinander. Als Material dienen Schütte hierfür alte Konstruktionspläne ihres Mannes, der als Statiker arbeitet. „Katrin Schütte überzeugt durch Konzentration, Konsequenz und Beharrlichkeit“, so das Urteil der Jury. Im Zentrum stehe dabei das Haus - als Symbol für Heimat, als sichere Hülle und Gerüst unseres Lebens.

 

Identität, Veränderung und Unsichtbares

 

Anders gestaltet sich hingegen die Ausstellung der für den Hauptpreis nominierten Werke in der großen Kunstschau. Hier habe man die Werke bewusst so kuratiert, dass besonders die ihnen innewohnende Ästhetik zum Ausdruck kommt, erklärt Arnold. Man arbeite viel mit verschiedenen Blickachsen und in den Räumen wurden die Werke der Künstler:innen miteinander kombiniert, sodass sie zueinander in Aktion und miteinander in den Dialog treten.

In der Großen Kunstschau begegnet man zunächst den Positionen von vier der acht Nominierten. Neben Arbeiten der jungen Künstlerin Jody Korbach, die sich in ihren Werken der Frage widmet, wie gesellschaftliche Gruppen entstehen und inwiefern die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft entstandene Lücken im Leben füllen kann, findet sich in der Großen Kunstschau auch das erste Kunstwerk der Französin Charlotte Perrin. Sie bewegt die Frage nach der Wirkung des Raumes und wie dieser durch tägliche Veränderungen neu erfahren werden kann. Hierfür wird ein Teil ihres Ausstellungsstücks in regelmäßigen Abständen verändert, sodass ihre Kunst jedes Mal eine neue Perspektive für die Betrachter:innen bereithält.

Ebenfalls sieht man 50 Zeichnungen des nigerianischen Künstlers Karo Akpokiere, der in seinen Bildern ein visuelles Tagebuch führt, das den Ablauf des Lebens zwischen zwei Welten veranschaulicht - einem Leben als Pendler zwischen Lagos und Berlin. Und Sarah Lüdemann mit ihrem Künstlerinnennamen „Beauham“ rückt mit ihren Arbeiten das Merkmal der Körperlichkeit in den Vordergrund ihres Schaffens und macht scheinbar unsichtbare Dinge sichtbar. Hierzu hat sie bspw. Betongüsse aus den Hohlräumen von Verpackungsmaterial angefertigt.

 

Baustellen, Waren und Gewalt

 

Hiernach folgen in einem weiteren Raum die Arbeiten von Stefanie Unruh, einer Künstlerin aus München, die in ihren „Baustellenarbeiten“ nicht nur Gebäude darstellt und Material verarbeitet, welches in ihrer Umgebung zu finden ist. Gleichzeitig rückt sie auch die Menschen ins Licht, die beim zunehmenden Ausbau der Großstädte nicht gesehen werden - Menschen, deren zuhause eben der Raum ist, der von einzelnen anderen beansprucht wird. Anna Nero aus Frankfurt, geboren in Moskau, konzentriert sich hingegen auf Farbe und Form. In ihren Malereien verbannt sie bewusst jegliche Natur und Landschaft. Sie zeigt fantastische Dingwelten, in welche sie auch die Betrachter:innen einlädt. Stefan Panhans und Andrea Winkler begeistern abschließend mit einer selbstgedrehten Videoinstallation, welche sich mit dem Thema Konsumfreiheit beschäftigt - in einer Welt, in der alles zur Ware zu werden scheint.

Gewinnerin des Hauptpreises ist in diesem Jahr die Hamburger Künstlerin Almut Linde, die innerhalb ihrer Werke dem künstlerischen Material seine gewalttätige Seite entlockt. Hierfür hat sie Soldaten mit Maschinenkanonen auf Aluminiumplatten schießen lassen und Frauen, die akute Gewalterfahrungen miterleben mussten, Ton sowie verschiedene Hieb- und Stichwerkzeuge zur Verfügung gestellt, mit denen diese das Erlebte und ihre damit verbundenen Emotionen frei heraus verarbeiten durften. Linde schafft so ganz persönliche Perspektiven auf Krieg und Verwundung und beobachtet damit ein System, in dem „das Individuum nicht frei ist, sondern starken Zwängen unterliegt“, erklärt die Hamburgerin selbst. Wichtig sei der Künstlerin dabei die Wertschätzung der einzelnen Gruppen und ihrer Erfahrungen. „Almut Linde gelingt es in ihren Arbeiten, auf berührende Weise zu zeigen, dass es letztlich immer Menschen sind, die die Systeme formen und nicht umgekehrt“, heißt es in der Bewertung der Jury.

 

Der mit 7.500 Euro dotierte Preis wurde am vergangenen Samstag, dem 26. November 2022, verliehen. Begutachten lassen sich die Werke der Künstler:innen noch bis zum 5. März 2023, jeweils am Mittwoch, Freitag, Samstag und Sonntag von 10 bis 16 Uhr. Für alle Interessierten gibt es ein besonders günstiges Kunstpreis-Ticket für 15 Euro, welches den Eintritt in beide Museen und einen Katalog mit Informationen zu den Künstler:innen und ihren Werken enthält.


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