Leitartikel: Sich von der Pandemiepolitik nicht verrohen lassen
Gesundheitsminister Karl Lauterbach ist in der letzten Woche mal wieder zur politischen Piñata geworden. Und er bekam nicht nur von der zur Krawallunion mutierten Christdemokratie und seinen permanent uneinigen Koalitionspartnern, sondern auch von vermeintlich kritischen Journalistinnen ordentlich Dresche. Beispielsweise von Lisa Caspari in der Zeit, von Kristina Böker vom Südwestrundfunk, von Vera Wolfskämpf aus dem ARD-Hauptstadtstudio und natürlich von der notorisch widerborstigen Hengameh Yaghoobifarah in der taz.
Sein Fett weg bekommt der scheinbar vom „coronabedingten“ Talkshowstar zum Kabinettsirrlicht abstürzende Gesundheitsminister von den vier Journalistinnen für sein Hin und Her bei Coronamaßnahmen und seine Strategie, fortan in der Pandemiebekämpfung auf Eigenverantwortung der Bürger:innen zu setzen.
Alle vier sind sich einig: Zum einen habe die Kommunikation der Regierung durch einen „getriebenen“ und „orientierungslosen“ (Caspari) Lauterbach, der nicht in der Lage sei, seine „Entscheidungen zumindest widerspruchsfrei zu erklären“ (Wolfskämpf) einen „Tiefpunkt“ (Caspari) erreicht, die ihm ein „politisches Armutszeugnis“ (Böker) ausstelle. Lauterbach sei zum Gesundheitsminister der „gebrochenen Herzen“ derjenigen (Wolfskämpf) geworden, die sich von ihm eine strikte und wissenschaftlich fundierte Politik wünschten.
Zum anderen sei vor dem Hintergrund der hohen Inzidenzwerte und der Tatsache, dass jeden Tag noch um die 300 Menschen an Corona sterben, der eingeschlagene Weg der Eigenverantwortung, sprich der Wegfall der Maskenpflicht und das Ende von 2G, 3G etc. verantwortungslos. Die auf diesem Weg anvisierte freiwillige Isolation hätte lediglich den Vogel abgeschossen. Abgerundet werde Lauterbachs rundum konstatiertes Versagen, das von abstürzenden Beliebtheitswerten in der Bevölkerung begleitet wird, schließlich vom Scheitern der allgemeinen Impfpflicht im Bundestag. Auch dafür muss Lauterbach ordentlich Kritik einstecken.
Als Gründe dafür, wie aus dem „pandemiebedingten“ spleenigen Hoffnungsträger in der Pandemie die personifizierte Enttäuschung mit Fliege für deutsche Maßnahmenherzen werden konnte, geben Yaghoobifarah und Wolfskämpf Profitlogik und FDP an.
Dass er die strikten Regeln, die Lauterbach für nötig erachtet, nicht durchsetzen kann, liege daran, dass die FDP mit in der Koalition sitzt, wie Wolfskämpf erklärt. Und die verantwortungslose Schiene der Eigenverantwortung fahre Lauterbauch, weil es ihm „um Profite“ gehe, wie Yaghoobifarah - vermeintlich gesellschaftskritisch - meint. So könne man Infizierte nämlich bei der Arbeit antreten lassen.
Die Verrohung unter den Menschen
Nun: Wie es bei der Jagd auf die Piñata mit verbundenen Augen halt so zugeht - die meisten Schläge treffen sie nicht. Klar, man kann Lauterbachs Hin und Her als Ausdruck von persönlicher Orientierungslosigkeit und seine Strategie als falschen Kompromiss gegenüber der FDP sowie als verantwortungslos und unmoralisch angreifen.
Aber indem die Kritikerinnen die derzeitige Pandemiepolitik lediglich als einen moralischen Wandfahrkurs angreifen, verstellen sie den Blick darauf, was Lauterbachs Widersprüchlichkeit über die konkreten Corona-Opfer hinaus die Gesellschaft in ihrer Substanz betreffend bewirkt und dass sie auf einer bestimmten Ebene ziemlich konsequent ist. Und schließlich sehen die Kritikerinnen nicht, dass sie selbst unwissentlich mitmachen bei der Politik, die sie kritisieren.
Indem Lauterbach zum einen sagt, jeder könne selbst entscheiden, ob er eine Maske trägt, gleichzeitig aber stets vermittelt - wie seine Kritikerinnen auch -, dass man ohne Maske in Kauf nehme, andere anzustecken und im schlimmsten Fall dann auch zu töten, wird jeder Einzelne, zum asozialen Gefährder und brutalen Rücksichtslosen, sobald er einen Supermarkt ohne Maske betritt. Ganz gleich, ob er gesund, schon dreimal geimpft und zwei Mal genesen ist. Ganz egal, ob er ein Coronaleugner oder jemand ist, dem Individualität, die sich nun einmal im Gesicht ausdrückt, ein unumstößlicher Wert (geblieben) ist und der in der Maske nie mehr als ein notwendiges Übel sah. So stachelt Lauterbach die Menschen nur weiter gegeneinander auf. Nicht politisch, sondern emotional. Und zum anderen liefert er mit diesem potenziellen Gefährder den willigen Coronamaßnahmenerträger:innen, die eine Menge unbewusster Aggression gegen sich selbst aufbringen müssen, um sich einerseits auf der so freudlosen wie zickzackigen Wir-gegen-Corona-Linie zu halten und um andrerseits ihre Gesellschaftskritik nicht als gesellschaftlichen Konformismus zu erkennen, ein politisch abgesegnetes Ventil für ihre angestaute Wut. - Die man im Übrigen nicht müde wird, als Rücksicht auf vulnerable Gruppen auszugeben.
Belegende Beispiele hierfür bieten verschiedene Posts auf Social Media, die behaupten, jetzt, da die Maskenpflicht weggefallen ist, werde sich zeigen, wer wirklich „asozial“ sei. Und nicht zuletzt liefert Yaghoobifarah mit ihrer Kritik an Lauterbach einen Beleg für die Umleitung ihrer unbewussten Wut übers unreflektierte Mitmachen im deutschen Hygienekollektiv auf die „Barebacker_innen“, wie sie Menschen ohne Maske in Innenräumen nennt. So sei sie im Supermarkt geneigt, „eine beherzte Faust ins maskenlose Gesicht der aufdringlichen Person“ neben ihr zu schlagen, wie sie schreibt.
Es zeigt sich, dass Lauterbachs Hin-und-Her-Politik - und das hat der Fluchtpunkt der Kritik zu sein - eine Befeuerung der Verrohung unter den Menschen betreibt, die von deren Kritikerin ausagiert wird.
Die Umlenkung der Eigenverantwortung
Entsprechend gehört Lauterbachs Politik nicht allein wegen ihrer Widersprüchlichkeit oder Eigenverantwortungsstrategie kritisiert. Sie ist darüber hinaus für die von ihrer Widersprüchlichkeit ausgehenden Verrohung und die damit bewirkte Angst vor individuellen, selbstbezüglichen Entscheidungen zu verurteilen. Also für die Zerstörung von Eigenverantwortlichkeit. Man könnte ja jederzeit als fahrlässiger Totschläger angegriffen werden.
Und aufgrund dieser momentanen Möglichkeit, jederzeit wegen eigenverantwortlicher Handlungen als tödlicher Asozialer angegriffen werden zu können, wird auch das Leben über Corona hinaus unerträglicher werden. Denn sie bewirkt, dass die Einzelnen den eigenverantwortlichen Blick von der vernünftigen, glücksorientierten Sorge ums eigene Wohl aufs konformistische, sich mit politischer Macht als solcher identifizierendem Engagement ums Allgemeinwohl umlenken. Womit schließlich auch die glücksversprechende Substanz der bürgerlichen Gesellschaft angegriffen wird. Die liegt nämlich - und das heißt Eigenverantwortung in einer freien Gesellschaft - in der so empathischen wie individualistischen Gleichgültigkeit, die das bürgerliche Individuum dem konkreten Verhalten seiner Mitmenschen gegenüber erbringt. Die geht aber zuschanden, wenn man in der Öffentlichkeit permanent Angst davor haben muss, dass einem überengagierte, machtberauschte Hilfssheriffs wegen jeder nicht Allgemeinwohl dienlichen Selbstbezüglichkeit eine verpassen wollen. Egal, ob verbal oder handgreiflich.
Die Verwandlung der Gesellschaft in ein Dorf
Lauterbach bzw. die Pandemiepolitik der Ampel verwandelt die bürgerliche Gesellschaft somit zunehmend in ein Dorf, in dem jeder jeden mit strafendem Blick verfolgt und auf dem Sprung ist, vermeintliche wie wirkliche Gefährdungen des Allgemeinwohls zu bestrafen oder anzuzeigen. Das Bittere dabei: Allgemeinwohl ist in unserer Welt nur der ideologische Begriff dafür, dass der Laden läuft, nicht dafür, dass es allen wohlergeht. Erst recht nicht sogenannten vulnerablen Gruppen. Aber das scheint man schon wieder vergessen zu haben, obwohl es in der Pandemie mehr als offenkundig wurde. Und man kann sich jetzt schon vorstellen, dass, sollten im Herbst die Coronamaßnahmen wieder restriktiver werden, nicht der Bummelkurs der Ampelkoalition bezüglich der Impfpflicht, sondern jene für die Verschärfung als verantwortlich angegriffen werden, die im Supermarkt ihr Gesicht zeigen.
Mit dieser - und auch das übersehen die wort- aber nicht begriffsstarken Kritikerinnen - entindividualisierenden Disziplinierung aller durch alle führt Lauterbach konsequent die von der Großen Koalition begonnene Etablierung eines flexiblen Krisencharakters fort, der im Ausnahmezustand lustvoll für den Staat in die Bresche zu springen bereit ist. Seine Fähigkeit ist, Eigenverantwortung ohne zu nölen als selbstnegierenden Dienst für die Allgemeinheit zu leisten.Nur geht Lauterbach nun einen Schritt weiter. Nicht mehr wird die zur Etablierung dieses Krisencharakters nötige Disziplinierung von der Politik mit bloßer Panikmache und in der Sache unnötigen Maßnahmen wie einer Ausgangsperre oder Alkoholverbot nach 23 Uhr betrieben. Er gibt die Disziplinierung an die gegeneinander aufgestachelte ideologische Dorfgemeinschaft weiter, die bereits aufgehört hat, das empathische wie gleichgültige und durch diesen Gegensatz erst zivilisierte Lächeln ihrer Mitmenschen zu vermissen.
All das heißt nicht, dass man überall keine Maske tragen sollte. Das Gesagte ist lediglich ein Plädoyer für eine Rückkehr zu Achtung, Respekt und Höflichkeit vor dem Individuum - ganz gleich, ob es Maske trägt oder nicht. Das würde Jesus Christi sicherlich auch gutheißen.