Patrick Viol

Kommentar: Die CDU ist nicht das Problem - fehlende Moral auch nicht

Die moralisierende Kritik an den Abgeordneten Nikolas Löbel (CDU) und Georg Nüßlein (CSU) vermittelt einen falschen Politikbegriff, kritisiert Patrick Viol in seinem Kommentar.
Entweder Selbstverwirklichung oder Gemeinwohl? Oscar Wilde z. B. stritt für eine Gesellschaft, wo sich diese Frage nicht mehr stellt. Bild: Driving, K. Schwitters/wiki commons

Entweder Selbstverwirklichung oder Gemeinwohl? Oscar Wilde z. B. stritt für eine Gesellschaft, wo sich diese Frage nicht mehr stellt. Bild: Driving, K. Schwitters/wiki commons

Die moralische Empörung ist groß: Die Abgeordneten Nikolas Löbel (CDU) und Georg Nüßlein (CSU) hätten sich persönlich an der Corona-Krise bereichert. Für die Beschaffung von Masken soll Nüßlein 660.000 Euro und Löbel 250.000 Euro kassiert haben. Für ihre Maskendeals haben Nüßlein und Löbel von allen Seiten scharfe Kritik geerntet. Und im Netz vor allem Hass.
Einig sind sich ihre Kritiker:innen darüber, dass Nüßlein und Löbel „eine schamlose Ausnutzung einer Zwangslage“ betrieben hätten, wie die Junge Union die Kritik auf den Punkt bringt. So etwas zu tun, so die Begründung, sei „einem politischen Mandatsträger unwürdig“, weil sie als Volksvertreter, wie Armin Laschet betonte, dem Gemeinwohl zu dienen hätten. Diesen Gedanken auf die Spitze treibend kommentierte die Süddeutsche Zeitung, Nüßlein und Löbel seien „Dealer statt Diener“ und attestierte ihnen „moralisches Totalversagen“. Auch ich würde bezüglich der Masken-Affäre von einem „Totalversagen“ sprechen. Aber von einem der moralisierenden Kritik, das meines Erachtens schwerer wiegt als die Abgebrühtheit von Nüßlein und Löbel. Denn deren Kritiker:innen führen mit ihrer Kritik nicht nur die Bevölkerung mit falschen Vorstellungen hinters Licht. Sie stacheln zugleich ihren Hass auf Politiker:innen an.
Dadurch nämlich, dass sie - wie exemplarisch in der SZ - den Unionsmännern lediglich Gier und einen Mangel an Gemeinwohlorientierung, „Anstand und Moral“ vorwerfen und härtere Abgeordnetenregeln fordern. Und indem sie in Anbetracht von Nüßlein und Löbels Vergehen eine allgemeine Beschäftigung mit der Frage fordern, ob wir ein Land sein wollen, „in dem jene bewundert werden, die ... das Meiste für sich herausgeholt haben - oder eines, das Umsicht und Gemeinwohl in den Vordergrund stellt.“ (SZ)
Warum? Weil diese Kritik die Sphäre der Politik abstrakt als eine der bloßen Moral: des „Menschheitlich-Anständige(n)“ erscheinen lässt. Und damit Allgemeinwohl als Folge von moralisch handelnden Politiker:innen. Was zugleich nahelegt, dass die Tatsache, dass es in der Gesellschaft reell nie allen gut geht, Folge unmoralischen Verhaltens sei, die sich mit härteren Verhaltensregeln für Abgeordnete ändere. Das aber ist gefährliche Ideologie. Weil sie Menschen für etwas verantwortlich macht, das aus den Strukturen folgt. Die müssen sie zwar interpretieren, aber sie verfügen nicht über sie. Der Mangel an realem Allgemeinwohl folgt ohne unmoralisches Handeln aus dem Verhältnis von bürgerlichem Staat und auf Wettbewerb beruhender Ökonomie: Weil diese die Existenzgrundlage des Staates ist, ist er nicht nur abhängig vom notwendig egoistischen „Jeder-gegen-Jeden“ auf dem Markt. Es ist seine Aufgabe, Allgemeinwohl durch die rechtliche Absicherung jener Konkurrenz herzustellen. Also dadurch, dass er gewährleistet, dass ein jeder sich die Zwangslage des anderen, sich über Arbeit und Einkaufen sein Leben ermöglichen zu müssen, gewinnbringend zunutze machen kann und muss. Allgemeinwohl durch Konkurrenz heißt aber: Es gibt es immer Verlierer:innen. Das zeigt nicht zuletzt die Corona-Politik. Trotz Moral. Entsprechend ist Politik auch nicht die bloße Sphäre des „Menschheitlich-Anständigen“. Auch wenn die meisten Politiker:innen anständige Menschen sind: Politik selbst ist Ausdruck davon, dass wahre Sittlichkeit, die darin läge, den anderen nicht als Mittel zum eigenen Vorteil betrachten zu müssen, nicht die Grundlage unserer Gesellschaft ist.
Und schließlich täuschen die moralisierenden Kritiker:innen die Bevölkerung mit der Behauptung, man müsse sich zwischen Gemeinwohl und individueller Selbstverwirklichung entscheiden. Nach dem Schriftsteller Oscar Wilde wäre real auch eine Gesellschaft möglich, in der die freie Entfaltung des Einzelnen die Bedingung des Wohls aller ist.


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