Patrick Viol

Kommentar: Das Unheil der "heilen Welt"

Die Bekämpfung von Gewalt gegen Kinder ernst zu nehmen hieße, für ein aufgeklärtes Familienbild zu streiten.
Gewalt gegen Kinder kommt in allen Schichten und Mileus vor. (Bild: Kadinsky - Last Judgement/wikimedia)

Gewalt gegen Kinder kommt in allen Schichten und Mileus vor. (Bild: Kadinsky - Last Judgement/wikimedia)

Bild: Patrick Viol

„Genauer hinschauen“ - das ist die sich jedes Jahr wiederholende Forderung in Anbetracht der Zahlen hinsichtlich der Gewalt gegen Kinder, die das Bundeskriminalamt jedes Jahr vorstellt. So auch dieses Mal. Denn dem letzten Bericht vom Mittwoch zufolge gab es 2020 einen Anstieg der Gewalt. 53 Prozent mehr Fälle von Kinderpornografie, rund 1.000 angezeigte Missbrauchsfälle mehr, 10 Prozent mehr Misshandlungen von Kindern ohne sexuelles Motiv und 152 Kinder, und damit 40 mehr als 2019, wurden getötet. Davon 79 vorsätzlich. Und das sind nur die polizeilich erfassten Fälle. Da die meisten Gewaltverbrechen gegen Kinder in der Familie begangen werden, liegt die Dunkelziffer weit höher.
Das bittere an diesen Zahlen - neben dem individuell erlebten Grauen, für das sie stehen - ist: Man hatte sie erwartet - aufgrund des Lockdowns bzw. allein deshalb, weil die Menschen mehr zu Hause sind, also mehr Zeit als Familie verbringen. So warnte die ehemalige Familienministerin Franziska Giffey (SPD) bereits Ende März 2020 vor einem Anstieg häuslicher Gewalt, den bereits Ende April 2020 Sozialarbeiter:innen bestätigten.
Diese beinah reflexhafte, von den meisten Menschen geteilte und der eigenen Erfahrung entsprungene Ahnung, dass die Familie nicht der Ort ist, wo die Welt noch „heile“ ist, sondern wo Wehrlosen meist psychische und in schlimmsten Fällen körperliche Gewalt angetan wird, weil die Welt überall kaputt ist, wird aber bei den Überlegungen, was gegen Gewalt gegen Kinder zu tun sei, nicht ernst genommen.
Denn dann würde man sich nicht mit einem „besseren Hinschauen“ begnügen und sich lediglich auf die Folgen von Gewalt, sprich auf mehr Personal und Mittel zu deren Beobachtung in Schulen und zur polizeilichen Verfolgung von Täter:innen konzentrieren. Die Bekämpfung von Gewalt gegen Kinder ernst zu nehmen hieße, eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Familie als eine spezifische Quelle von Gewalt mit der Leitfrage zu fordern, wie sie dort entsteht.
Dass es für die zu vielen und zu jungen Opfer mehr fähiges und empathisches Schutzpersonal und zur Erfassung von Täter:innen mehr Polizist:innen braucht, die sich mit Cyberkriminalität auskennen und die Nerven haben, übelstes Material zu sichten, ist keine Frage. Aber dadurch verschwindet nicht die Gewalt. Ebenso wenig durch höhere Strafen. Auch macht man es sich mit einer Verschiebung der Ursachen auf oberflächliche äußere Faktoren wie Armut und Arbeitsstress zu einfach. Gewalt gegen Kinder kommt in allen Schichten und Milieus vor.
Was es braucht, um die hohen Zahlen von Gewaltdelikten gegen Kinder langfristig zu senken, das wäre ein aufgeklärtes Familienbild. Denn vom ideologischen Bild einer heilen Welt im familiären Zwangsverband geht nicht nur immenser Druck aus, sondern an ihm zu scheitern - und das tun wir alle - kann zu Enttäuschung, Verzweiflung und letztlich Wut führen, die in Gewalt umschlägt. Familie ist mehr als jeder andere Ort, keine heile, sondern eine konflikthafte Welt, was alle nicht nur ohnmächtig erleben, sondern auch anerkennend verstehen lernen sollten. Auch sollte man aufhören, eine Familiengründung mit Kindern als das Lebensziel schlechthin darzustellen. Viele verfolgen es dadurch aus falschen Gründen und lassen später ihre Kinder für ihr nicht gelebtes Leben büßen. Sowieso sollte man auf lange Sicht darüber debattieren, was sich an unserer Gesellschaft ändern muss, damit Erwachsensein nicht bloß Ohnmacht, Wiederholung und damit das Ende von Zukunft bedeutet. Dann nämlich könnten Eltern aufhören, ihre Kinder projektiv als „unsere Zukunft“ zu sehen und zu misshandeln, wenn sie sich eine eigene entwerfen; dann könnte Familie vielleicht ein Ort werden, wo durch Konflikte autonome wie zarte Wesen heranwachsen.


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