

Wenn man als junger Linker eine politische Erkenntnis aus diesem Jahr ziehen will, dann die: Den Nahostkonflikt begreift die Linke nicht. Ihre reflexartige Palästinasolidarität, gespeist aus falschem Antiimperialismus und Geschichtsrevisionismus, dient vor allem der eigenen moralistischen Selbstvergewisserung. Währenddessen grassieren Antisemitismus und Antizionismus in der Linkspartei. Palästinasolidarität scheint zu einer Modeerscheinung verkommen zu sein, die die Linke selbstbewusst mit dem militant-nationalistischen Symbol der Kufiya zur Schau stellt.
Viele israelsolidarische Linke, darunter innerparteiliche Zusammenschlüsse wie die Bundesarbeitsgemeinschaft Shalom, schwören der Linkspartei dennoch nach wie vor die Treue. Antisemitismuskritische Akteure hoffen, den Parteikurs durch ihre Arbeit korrigieren zu können – dafür werden sie massiv angefeindet. Die Strategie der innerparteilichen Korrektur ist gescheitert und die Konsequenz unübersehbar: Die politische Linke, sowohl vor Ort, bundesweit als auch international, scheint am Nahostkonflikt zugrunde zu gehen – daran ändern auch sozialpolitische Almosen wenig.
Die Linke Osterholz
Wenn es um den Nahostkonflikt geht, weiß sich der Kreisverband der Linken Osterholz in moralischer Sicherheit zu wähnen: Mehrfach veranstaltete die Kreislinke Osterholz Aktionen in vermeintlicher Solidarität mit Palästina. Zur Palästina-Großdemo in Berlin Ende September dieses Jahres sendete der Kreisverband „solidarische Grüße“. Mit Kerzenlichtern formen zwei Parteianhänger die Worte „All eyes on Gaza“ (zu Deutsch: Alle Augen auf Gaza). Wie so häufig wird der Nahostkonflikt zur Welt- und Erlösungsfrage verklärt: Wenn alle Augen auf Gaza gerichtet sind, gerät das Leid anderer Konflikte aus dem Blick.
Immer wieder spricht die Linke Osterholz vom „israelischen Völkermord in Gaza“, obgleich gewiss kein wissenschaftlicher Konsens darüber herrscht, ob Israels Kriegsführung als „Völkermord“ zu gelten hat. Zum Hamas-Massaker am 7. Oktober, dem Leid israelischer und jüdischer Zivilisten sowie dem grassierenden Antisemitismus äußerte sich die Linke Osterholz bisher an keiner Stelle auf ihrer Internetseite.
Antisemitismus in der Linksjugend
In Berlin beschloss die Linksjugend Solid Anfang November einen „zutiefst antisemitischen Antrag“, wie die thüringische Landtagsabgeordnete der Linken Katharina König-Preuss passend beschreibt. Schon der Titel „Nie wieder zu einem Völkermord schweigen“ lässt den geschichtsrevisionistischen Charakter des Beschlusses anklingen. „Nie wieder“ – eigentlich Mahnung und Versprechen nach dem Holocaust – wird instrumentalisiert, die Singularität der Shoah außer Acht lassend. Die neugewählte Bundessprecherin des Jugendverbandes, Chiara Wüthrich, verdeutlicht die Holocaust-verharmlosende Rhetorik. Über den Krieg in Gaza sagt sie: „Das ist ein Völkermord. Das ist ein fucking Holocaust. Das ist der Holocaust!“
Weiter heißt es im Antrag: „Wir haben versagt, den kolonialen und rassistischen Charakter des israelischen Staatsprojekts […] zu verurteilen“. Außerdem müsse man „revolutionäre Bewegungen“ aus der Region unterstützen. Welche „Bewegungen“ das sein sollen, wird nicht benannt. Vermutlich bewusst, werden Hamas und der 7. Oktober doch in Teilen des linksautoritären Spektrums, von Parteien und Gruppierungen wie MERA25, SDAJ oder MLPD als „Widerstandsaktion“ verdreht.
In Teilen des linksautoritären Spektrums kursiert seit Jahren die Fantasie eines „Völkermords Israels“. Auch die Lüge vom „Kolonialprojekt Israel“ ist in der Linken inzwischen keine kontroverse These mehr. Dass der Zionismus und die Staatsgründung Israels einem „kolonialen Charakter“ widersprechen, wird außer Acht gelassen. Denn die Gründung Israels entstand nicht etwa aus imperialer Expansion, sondern aus der Verfolgung und millionenfachen Vernichtung eines staatenlosen Volkes. Israel ist die logische Konsequenz nach Auschwitz – die verstaatlichte Emanzipation aller Juden nach der Shoah. Gerade als Linker sollte dieses Existenzrecht verteidigt werden. Implizit und explizit sprechen Linke inzwischen von arabischem Land, das das „Kolonialprojekt Israel“ besetzt habe. In einer Argumentationslogik, die an völkische Blut-und-Boden-Vorstellungen erinnert, nähern sie sich jener Ideologie an, die sie vermeintlich am meisten verabscheuen.
Schon während des Bundeskongresses der Linksjugend soll unter den Delegierten ein bedrohliches und einschüchterndes Klima geherrscht haben, insbesondere gegen antisemitismuskritische Positionen. In einer Droh-Nachricht heißt es: „Thüringen nicht schlafen lassen – wir wissen, wo ihre Zimmer sind.“
Die mediale Empörung nach dem Bundeskongress war groß, Parteispitze und alteingesessene Mitglieder verurteilten den Antrag, und doch bleiben parteiliche Konsequenzen noch immer aus.
Hauptsache auf „der richtigen“ Seite
Osterholzer Linke wie Linksjugend sind exemplarisch für ein politisches Lager, das sich nur noch für die eigene moralische Richtigkeit zu interessieren scheint. Katalysiert durch den Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober manifestiert sich ein Gefühl der Ungerechtigkeit im Bewusstsein der Menschen. Das zermürbende Leid von Zivilisten in Gaza wird gesehen, aber nicht als das anerkannt, was es ist: eine Folge des durch die Hamas ausgelösten Krieges. Das Leid dient nur noch der eigenen moralischen Überlegenheit, justifiziert durch die Masse – Hauptsache, man steht auf „der richtigen“ Seite der Geschichte.
Solidarität mit Palästinensern kann nur ehrlich sein, wenn sie die Hamas als klare Gefahr und Aggressor für die Bevölkerung benennt. Stattdessen rechtfertigen viele Linke ihren notorischen Israelhass unter dem Deckmantel der „Israelkritik“. Fraglich ist, was jene „Israelkritik“ überhaupt sein soll. So müsste man gleichermaßen von „Russlandkritik“ oder „Deutschlandkritik“ sprechen – passiert aber nicht, ganz nach dem Motto: „Israel, dich hasst es am besten“. Gut und „frei“ werde die Welt erst dann, wenn auch Palästina „befreit“ werde („free Palestine“). Der linke Antisemitismus wirbt mit „Gerechtigkeit“, spricht von Menschenrechten, „Befreiung“ und „Antikolonialismus“, hat jedoch einen ebenso autoritären Charakter. Wer nicht für „das Richtige“ einsteht, ist der Feind. Dabei geht es gewiss nicht um die Opfer, sondern um das eigene, reine Gewissen.
Dafür werden ideologische Widersprüche großzügig übersehen: Seit dem 7. Oktober haben sich in Deutschland teils bizarre Allianzen mit gefährlichen Querfront-Bestrebungen herausgebildet. So kommen etwa in Nordrhein-Westfalen regelmäßig BSW, Linke, Team Todenhöfer und Verschwörungsideologen beim „Friedensbündnis NRW“ zusammen. Sie alle eint eine einseitige, häufig israelfeindliche Deutung des Nahostkonflikts. Die opportunen, antisemitischen und autoritären Tendenzen innerhalb der Linkspartei zeigen, in welche Richtung sich die Partei entwickelt.
Was ist mit dieser Linken anzufangen?
Wohin als antisemitismuskritischer Linker? Sollte man in Zeiten des Rechtsrucks und zunehmend rigoroser Sozialpolitik trotzdem die Linke wählen? Als deutscher Linker sollte der Kampf gegen Antisemitismus und Israelhass ein Grundpfeiler des Selbstverständnisses sein. Hat man die Shoah und die Lehren daraus wirklich verstanden und distanziert sich nicht nur aus moralischen Gründen von der industriellen Vernichtung, so muss man der Linkspartei aktuell den Rücken kehren. Fairerweise muss auch genannt werden, dass sich innerhalb der Linken Widerstand formiert: Alteingesessene Parteimitglieder wie Bodo Ramelow oder Katharina König-Preuss zählen zu den prominentesten antisemitismuskritischen Stimmen. Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Shalom widersetzt sich den antiisraelischen und antisemitischen Tendenzen. Wie aussichtsreich dieser Kampf ist, bleibt abzuwarten. Dass israelsolidarische Mitglieder wie der gebürtige Osterholzer Ramelow in der eigenen Partei regelmäßig massiven Anfeindungen ausgesetzt sind, lässt jedenfalls wenig Hoffnung für die Zukunft der Linken.
Der Versuch, eine zutiefst gespaltene und antisemitische Partei von innen zu reformieren, ist gescheitert. Die wenigen verbliebenen Energien sollten nicht länger in verlorene innerparteiliche Grabenkämpfe fließen. Eine politische Linke muss emanzipatorisch, progressiv, antiautoritär, antisemitismuskritisch und zionistisch sein – all das ist die Linkspartei nicht.




