Linn Vertein

Humanität ausgesetzt

Innenminister Alexander Dobrindt betreibt Migrationsabwehr statt Asylpolitik - und stellt dabei nicht nur europäische Rechtsgrundlagen, sondern auch humanitäre Prinzipien infrage, kommentiert Linn Vertein.

Deutschlands härtester Türsteher: Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU).

Deutschlands härtester Türsteher: Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU).

Bild: Sandro Halank

Bundeskanzler Friedrich Merz und Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) sehen sich in ihrer Politik bestätigt: Die Zahl der in Deutschland gestellten Asylanträge hat sich im ersten Halbjahr 2025 gegenüber dem Vorjahr halbiert. Ob das tatsächlich der zweifelhafte Verdienst der amtierenden Regierung ist oder nicht vielmehr mit einer veränderten Lage auf der sogenannten Balkanroute oder im Herkunftsland vieler Asylbewerber, Syrien, zusammenhängt, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Die Bundespolizei gibt jedenfalls an, seit Mai 9500 Menschen an den deutschen Außengrenzen abgewiesen zu haben.

Rechtsauslegung im Ausnahmezustand

Dabei widersprechen solche Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraums eigentlich dem Grundsatz der Freizügigkeit und dürfen nur in Ausnahmefällen und zeitlich begrenzt eingerichtet werden. Die Ampel-Regierung unter Olaf Scholz hatte die Kontrollen eingeführt und mit dem erhöhten Reiseaufkommen während der Fußballeuropameisterschaft der Männer im vergangenen Jahr begründet. Wenige Tage nach seinem Amtsantritt im Mai kündigte Innenminister Dobrindt an, die Kontrollen beibehalten zu wollen – und wies die Bundespolizei an, selbst Asylbewerber abzuweisen. Das verstößt gegen die Dublin-III-Verordnung, der zufolge EU-Staaten Asylbewerber zunächst aufnehmen und anschließend prüfen müssen, welches Land zuständig ist.

Auf welcher rechtlichen Grundlage Dobrindt diese Regelung aussetzt, ist nach wie vor unklar. Merz verwies bislang auf eine „migrationsbedingte Notlage“ – eine Formulierung, die vage bleibt. Das Innenministerium wurde inzwischen dazu aufgefordert, eine schriftliche Begründung nachzureichen.

Juristische Ohrfeige, politische Ausflüchte

Anfang Juni kassierte ein Berliner Verwaltungsgericht die Zurückweisung dreier Asylbewerber aus Somalia durch deutsche Beamte an der deutsch-polnischen Grenze – mit Verweis auf das Fehlen einer konkreten Ausnahmelage. Während das Urteil Dobrindts Politik in den Augen vieler diskreditierte, versuchte die Regierung, es als Einzelfallentscheidung eines untergeordneten Gerichts ohne grundsätzliche Bedeutung darzustellen.

Die juristische Schlappe rief heftige Reaktionen hervor – nicht nur politisch: Die Richter erhielten Morddrohungen, ihnen wurde ein ideologisch motiviertes Urteil vorgeworfen. Fachleute hingegen lobten die Entscheidung als juristisch vorbildlich.

Polizeigewerkschaft warnt vor Überlastung

Die Bundesregierung zeigt sich vom Urteil bislang unbeeindruckt. Auch die praktischen Bedenken der Bundespolizei ignoriert Dobrindt. Die Kontrollen beruhen faktisch auf einer Notstandspolitik, die nur durch Überstunden aufrechterhalten werden kann – ein Zustand, der laut Gewerkschaft der Polizei, wie diese im Mai betonte, nur noch wenige Wochen durchzuhalten ist.

Zusätzlich sorgt die Maßnahme für diplomatische Spannungen: Polen hat als Reaktion eigene Grenzkontrollen eingeführt und angekündigt, diese bis zum 4. Oktober zu verlängern.

EU-Außenlager statt Menschenrechte

Dass Dobrindt bei seiner Migrationspolitik wenig zimperlich mit rechtlichen und praktischen Einwänden umgeht, ist selbst für wohlwollende Beobachter kaum zu übersehen. Weniger Zögern, mehr Handeln – das war bereits das Motto von Merz im Wahlkampf zur „Migrationswende“. Entsprechend forderte Dobrindt auf dem EU-Innenministertreffen in Kopenhagen am 22. Juli, dass die Mitgliedsstaaten schnellstmöglich mit Drittstaaten Vereinbarungen über Abschiebelager schließen. Dorthin sollen künftig abgelehnte Asylbewerber abgeschoben werden, auch wenn sie keinerlei Verbindung zu diesen Ländern haben – Hauptsache, die Staaten erklären sich bereit, sie aufzunehmen.

Aufnahmeprogramme gestoppt

Seit zwei Wochen prangt eine neue Botschaft der Migrationsabwehr auf der Webseite des Innenministeriums: „Die humanitären Aufnahmeverfahren sind derzeit ausgesetzt.“ Betroffen sind Sondervisa und Sonderprogramme, mit denen Bund und Länder Menschen aus Kriegsgebieten oder Diktaturen ohne langwieriges Asylverfahren aufgenommen haben – etwa Afghanen, die für die UN gearbeitet haben, oder russische Oppositionelle.

Vergangene Woche wurde dann die Berliner Innenbehörde angewiesen, den Familiennachzug auf eigene Kosten für Syrer, Iraker und Afghanen einzustellen. Damit fällt eines der kontrolliertesten und transparentesten Einwanderungsverfahren dem politischen Kurs der „Migrationsabwehr“ zum Opfer.


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