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Tom Boyer

Echokammer statt Global Village

Ist unsere Gesellschaft durch die Entwicklung der Medien in Gefahr?

Tom Boyer

Tom Boyer

Die Medien erlebten in den vergangenen Dekaden einen erheblichen Wandel, das liegt nicht zuletzt an den Einflüssen des Internets.

Ursprünglich sahen Kaliforniens Pioniere des Internets in seiner Etablierung die Chance, einen Ort der freien Rede und der freien Entfaltung zu erschaffen. Es wurde mit Zuversicht von einem „Global Village“ geträumt, einer vernetzten Online-Gesellschaft, die wegen der Anonymität Klassenzugehörigkeit, Herkunft und weitere Merkmale der Kategorisierung während der Nutzung irrelevant machen würde. Howard Rheingold, einer der damaligen Vordenker, führte hierfür den Begriff der „Virtual Community“, der „virtuellen Gemeinschaft“ ein.

Diese Vision hat sich offenkundig nicht erfüllt. Direkte und schnelle Kommunikation, die dauerhafte Möglichkeit auf Informationen zugreifen zu können und die Entkopplung von Raum und Konversation bieten uns zwar die Möglichkeit, Freude, Bekannte oder Gleichgesinnte per Facetime oder Messenger auch von der anderen Seite der Welt sehen zu können. Demgegenüber stehen aber auch die Möglichkeiten der Manipulation durch das Verbreiten von Unwahrheiten, die etwa von autoritären Regimes wie Russland zur Kriegspropaganda genutzt werden. Online-Aufrufe zu Hass, Hetze und Gewalt können sich in die Realität übertragen, wie es der Sturm auf das Kapitol nach Trumps Befeuerung seiner Anhänger auf Twitter am 6. Januar 2021 bestätigt.

 

Medien sind jetzt Barkeeper

 

Die wohl maßgeblichste Änderung in Bezug auf Medien ist, dass nun jeder nicht mehr nur Empfänger:in, sondern auch Sender:in von Informationen sein kann. Vor der Etablierung von Sozialen Medien war es für große Teile der Bevölkerung lediglich möglich, Informationen zu empfangen. Zeitungen, Radio und Fernseher waren die gängigen Informationsquellen. Rundfunk und Medienhäuser agierten als eine Art Gatekeeper (Torwächter). Sie hatten die alleinige Gewalt über die Nachrichten, die sie für essenziell genug hielten, um diese zu veröffentlichen. Der Wissensstand der Bevölkerung basierte also auf den Informationen und dem Vertrauen der Medien.

Heute sind Pressehäuser nicht mehr Gatekeeper, sondern eine Art Barkeeper. Sie können einen bestimmten Fokus auf bestimmte Themen legen, sie müssen einen angemessenen Mix aus verschiedenen Ressorts zur Verfügung stellen. Dabei stehen Medienverantwortliche vor dem Dilemma, Aufmerksamkeit ohne Spektakel zu generieren und nicht lediglich das maximale Aufsehen gekoppelt an den maximalen Profit mit Sensationsnachrichten zu generieren.

Das hohe Reichweitenpotenzial von Sensationsnachrichten gefährdet den Qualitätsjournalismus immer mehr. Die Verkaufszahlen von Tageszeitungen sinken jährlich - während 1997 noch mehr als 27 Millionen Auflagen verkauft wurden, waren es 2021 nur noch etwas mehr als 12 Millionen. Dadurch sind die klassischen Zeitungen in eine Refinanzierungskrise geraten.

 

Anonym und ohne Hemmschwelle

 

Gegenwärtig hat sich die Öffentlichkeit auch insofern verändert, als dass die ganze Gesellschaft die Möglichkeit hat, als Sender zu agieren. Jede:r kann jegliche Informationen, Ansichten, Vermutungen oder Meinungen kundtun, unabhängig davon, ob diese wahr sind oder andere Personen zu schädigen versuchen. Die Grenzen des Sagbaren haben sich durch die Anonymität der Internetnutzer:innen verschoben. Ohne nennenswerten Aufwand kann unter falschem Namen jeder beliebig beleidigende oder bedrohliche Kommentar veröffentlicht werden.

Damit einher geht das Verhalten unserer Gesellschaft als einer Empörungsdemokratie. Die Hemmschwelle, andere Nutzer:innen für jegliches Verhalten, das sie als falsch wahrnehmen, heftig zu kritisieren, ist für viele Menschen niedrig. Die Angst vor Abschätzigkeit und Ablehnung in Form eines Shitstorms kann die Meinungsfreiheit beschränken. Dies ist bei gut begründeten und faktisch belegten, abweichenden Meinungen ein Problem.

 

Extremismus in der Echokammer

 

Die überregionale Vernetzungsfunktion führt zu der Etablierung einer reibungs- und irritationsfreien Stabilisierung der Weltsicht des Einzelnen. Jeder findet über soziale Netzwerke größere Gruppierungen, die die eigenen Gedanken teilen und befeuern. Viele Menschen befinden sich deshalb in einer Bubble (Echokammer), in der die eigene Meinung und Weltansichten derartig intensiv wiederholt werden, dass diese zur einzig wahren Realität werden. Dieses Phänomen bestärkt die Gefahr der gesellschaftlichen Spaltung durch sich selbstbeschleunigende, immer extremer werdende Ansichten. Dies lässt sich an den sich in den letzten Jahren vermehrt entstandenen Parallelwelten mit verschiedenen Verschwörungen zu Covid-19 verbildlichen.

Weitere Beispiele sind Konflikte zwischen rechten und linken Lagern in Italien, Polen Frankreich, den USA oder auch Deutschland. Diese Entwicklungen können eine Gefahr für den demokratischen Zusammenhalt bedeuten und das Grundvertrauen einer Gesellschaft zerrütten. Damit stellen sie auch eine Gefahr für eine funktionierende Demokratie dar.

Obwohl die Nutzung des Internets erst seit einigen Jahren einen so hohen Einfluss hat und die langzeitlichen Auswirkungen auf die Gesellschaft noch nicht bestimmt werden können, lassen sich verschiedene Lösungsansätze finden, um derzeitig auftretenden Problemen entgegenzuwirken. Zwar gibt es ohne Frage zahlreiche gute Eigenschaften der Entwicklung durch das Internet und den damit etablierten Medien, doch fest steht, dass die Vision der virtuellen Gemeinschaft sich nicht erfüllt hat und wahrscheinlich auch nicht erfüllen wird.

 

Mit Verantwortung senden

 

Zum einen ist es essenziell, zukünftigen Generationen eine umfassende publizistische Bildung zu gewährleisten. So muss jede:r Einzelne ein fundiertes Bewusstsein dafür entwickeln, welche Verantwortung damit einhergeht, allzeitlich Zugriff auf die Funktion des Sendens zu haben. Es muss im Interesse aller sein, durch Reflexion Filterblasen und zunehmend einseitige Ansichten hinterfragen zu können, um die psychologischen Fallen aus dem Affekt gesendeter Kommentare und Meinungen zu erkennen. Dadurch, dass diese Prozesse der Medien alltäglich und mittlerweile vom Kindes- oder Jugendalter an stattfinden, sollte dieses Thema auch in der Schule mehr Beachtung finden.

Zum anderen ist neben der Bildung der Einzelnen auch die Stärkung des Qualitätsjournalismus essenziell. Über Jahre ausgebildete Journalistinnen leisten durch unabhängige, fundierte und gut recherchierte Artikel wichtige Beiträge für eine mündige und kritische Gesellschaft. Fiele er durch die fortschreitende Digitalisierung weg, die ihm jetzt schon durch zurückgehende Auflagenzahlen Schwierigkeiten bereitet, stünde die Fähigkeit zum autonomen Denken und mit ihr die Demokratie auf dem Spiel.


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