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Patrick Viol

Die Wahrheit aus dem U-Bahnschacht 

Osterholz-Scharmbeck. Die diesen Sonntag eröffnende Fotoausstellung „OBEN und UNTEN“ von Ciprian Olaru auf Gut Sandbeck verrät anhand urbaner Architektur und hiesiger Kulturlandschaften einiges über das gesellschaftliche Zusammenleben.

Nach den Ausstellungen „Modern und Ungewöhnlich - Architektur in Kopenhagen“ in der Stadtbibliothek Bremen (2019) und „In der Mitte“ in der Galerie Altes Rathaus 2020 in Worpswede zeigt der Kunstverein Osterholz e. V. nun die dritte Einzelausstellung des jungen rumänischen Fotografen Ciprian Olaru.
Die Ausstellung mit dem Titel „OBEN und UNTEN“ zeigt Fotografien urbaner Großstadtarchitektur und provinzieller Kulturlandschaften, konkret: Ciprian Olaru präsentiert menschenleere U-Bahn-Stationen wie verlassene U-Bahn-Waggons aus Hamburg, Berlin, München, Stockholm und London (unten) und Kulturlandschaften des Teufelsmoors. Mal sind es lediglich mittig verlaufende, zwei Felder trennende Grüppen, die das Motiv bilden, mal sind es Bauwerke in der Kulturlandschaft, wie die Himmelstreppe oder die Brücke mit dem Knick. Auch ist eine Reihe des Hoetger Gartens in Worpswede zu sehen.
Mit seinen Bildern präsentiert Olaru den Betrachter:innen einen Aspekt an der uns umgebenden Architektur und Landschaft, den man selten bis gar nicht wahrnimmt, wenn man sie - nicht selten gestresst - durchquert: ihre Symmetrie. Durch Olarus Bildausschnitt ist man gezwungen, zu sehen, was einem sonst aus dem Blick verschwindet.
Zudem gerät man unweigerlich in die Versuchung, zu kontrollieren, ob der Eindruck der Symmetrie sich an den Details im Bild bestätigt. Dadurch wird man umso mehr in Olarus Bilder hineingezogen und es entfaltet sich die künstlerische Kraft der Architektur auf der einen und die menschliche Handschrift der bearbeiteten Natur auf der anderen Seite.
 
Ähnlichkeiten und Gegensätze
 
Indem Olaru die Bildausschnitte so wählt, dass die Bilder der Landschaften wie die der U-Bahn-Stationen und -Waggons so wirken, als seien die linke und rechte Bildhälfte gespiegelt worden, lässt Olaru den Untergrund der Metropole als der Oberfläche der ländlichen Provinz - vermittelt über die Symmetrie- als ähnlich erscheinen und somit miteinander in Kommunikation treten. So wird zum einen die Frage danach aufgeworfen, was das eine mit dem anderen zu tun und zum anderen erzwungen, Ähnlichkeiten zwischen Stadt und Land zu sehen, während das Alltagsbewusstsein sie meist bloß als schroffe Gegensätze begreift. Die Bilder geben damit Anstoß, den Gegensatz als Ideologie zu hinterfragen. Dazu verleiht Olaru durch seine spezifische Bildsprache und Motivwahl bekannten städtischen wie ländlichen Räumen einen neuen Charakter. Er zeigt Orte der endlosen Bewegung als in sich ruhend und verleiht den brachliegenden Landschaften durch den gewählten Bildausschnitt eine Dynamik, die sie für sich genommen und mit dem natürlichen Auge betrachtet nicht aufweisen. Entsprechend spricht Kuratorin Gesa Jürß, der eine perfekte Auswahl und Hängung für das Gut Sandbeck gelungen ist, davon, dass Olaru in seinen Bildern „sowohl die Bewegung und Beschleunigung als auch die kurzen Sequenzen der Entschleunigung festhält.“
 
Die Wahrheit über Verdrängtes
 
Da die Motive aber verschiedene sind - U-Bahn und Agrarland - lösen die Bilder verschiedene Gefühle aus. Während z. B. das sich durch die bildmittig verlaufenden Grüppen in die weite Ferne erstreckende offene Land unter blauem Himmel ein unbestimmtes Freiheitsgefühl vermittelt, lösen die verlassenen Bahnen und U-Bahn-Stationen einerseits Unbehagen aus. „Sie wirken etwas spooky“, wie der Künstler es selbst formuliert. Doch zugleich offenbart Olaru andrerseits gerade durch die Menschenleere, die Stillstellung der Bewegung und die Fokussierung des Blicks auf die Symmetrie in dem Design der Verkehrsmittel wie der Architektur ihrer spezifischen Funktionsorte eine klassizistische Schönheit dieser von Menschen konstruierten Orte.
Diese Bilder - im Gegensatz zu den Landschaftsbildern - sind unheimlich und klassisch schön zugleich - Symmetrie ist ein unverzichtbares Merkmal des Klassizismus.
 
Oben und unten
 
Steht der Klassizismus - laut dem Philosophen G. F. W. Hegel - aufgrund seiner Formen für die sinnliche Erscheinung der Wahrheit und deutet Unheimliches laut Sigmund Freud u. a. auf einen verdrängten Widerspruch, so könnte Olarus klassizistischer Blick auf Verkehrsmittel und -orte die Frage nach der Wahrheit darüber aufwerfen, was die Menschen in ihrem täglichen Verkehr miteinander verdängen. Und eine mögliche Antwort der Bilder könnte lauten: Die Menschen verdrängen den in unserer Gesellschaft unaufhebbaren Widerspruch, dass sie einander Schutz und Bedrohung zugleich sind. Denn bedrohlich wirkt die verlassene U-Bahn-Station durch die Vorstellung, dort allein zu sein und von anderen überfallen zu werden. Eine volle Station löste das Gefühl nicht aus.
So konfrontiert uns Olarus Symmetrie herstellender und damit auf Wahrheit drängender Blick auf unsere Umgebung mit der Negativität unseres Zusammenleben: dass es keines ist, in dem sich die Einzelnen wohlgesonnen sind und dass das Bedürfnis nach Gemeinschaft nicht aus Freiheit, sondern aus der Angst voreinander entsteht.
Und indem die Ausstellung „oben“ und „unten“ miteinander verbindet, thematisieren Olarus Bilder von „unten“ auch die Negativität des Freiheitsgefühls, das die Bilder von „oben“ vermitteln: Dass uns ein Freiheitsgefühl in Anbetracht von ländlicher Ruhe und Abwesenheit von Menschen, nicht aber angesichts ihrer Bauten und technischen Entwicklungen ereilt, resultiert daraus, dass nicht Freiheit, sondern bedrohliche Einsamkeit im alltäglichen: im politökonomischen wie sozialen Verkehr der Menschen Wirklichkeit hat. Woraus letztlich die Angst voreinander folgt.
Indem Olaru aber den bedrohlichen Räumen im „unten“ zugleich ihren Schrecken nimmt, indem er sie in schöne Kunstobjekte für uns verwandelt, zeigt er an, dass ein Ende der Angst: die Verwirklichung der bislang nur „oben“ im Himmelreich des Gefühls oder im Denken liegenden Freiheit in der Gestaltung der Dinge zum Zwecke der Menschen liegt.
So wird in der Ausstellung „OBEN und UNTEN“ schließlich das thematisch, was unseren Augen, unserem Bewusstsein, unserem Verstand: dem „oberen Begehrungsvermögen“, wie es bei dem Philosophen Immanuel Kant heißt, entgeht: nämlich das, was unter dem Radar unseres Bewusstseins läuft, aber uns in unserem täglichen Handeln und Zusammenleben immer mitbestimmt - die Abwesenheit einer versöhnten Menschheit und die Hoffnung auf ihre Vereinigung aus Freiheit.
 


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