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Patrick Viol

Die Ausgangssperre ist skandalös

Mit der Ausgangssperre behandelt der Staat die Bevölkerung wie Kinder und lässt sie für eigene Fehler büßen,wie Patrick Viol in seinem Kommentar kritisiert.
Das Hü und Hott der Länder hat nun die Bevölkerung mit einer Ausgangssperre auzubaden. Bild:K. O. Götz, 1954/wiki

Das Hü und Hott der Länder hat nun die Bevölkerung mit einer Ausgangssperre auzubaden. Bild:K. O. Götz, 1954/wiki

Nun kommt sie, die sogenannte Bundesnotbremse. Mit ihr sind die Einschränkungen des öffentlichen Lebens ab einer Inzidenz von 100 keine Auslegungssache mehr der Länder, sondern erfolgen bundeseinheitlich. Nachdem die Länder nach der Einigung im letzten Bund-Länder-Gespräch sich in der Praxis nicht an die gemeinsamen Abmachungen hielten, vielerorts die Notbremse bei einer Inzidenz von 100 ignorierten und die Infektionen in die Höhe schießen ließen, hat die Bundesregierung nun das Infektionsschutzgesetz geändert.
Was mit der Bundesnotbremse einhergehen wird, ist inhaltlich fast nichts anderes, als dass die Länder nun darauf verpflichtet werden, sich an das zu halten, worauf sie sich bereits geeinigt hatten. Mit dem Unterschied - und der ist keine Kleinigkeit, sondern ein Skandal -, dass nun eine Ausgangssperre ab einer Inzidenz von 100 in der Zeit von 22 bis 5 Uhr greifen soll.
An dieser zu tief in die Freiheitsrechte der Einzelnen eingreifenden Maßnahme erweist sich einmal mehr, was mangelnde Weitsicht auf der einen und irrationale Trägheit des politischen Personals auf der anderen Seite in der Pandemie zur Folge haben: Verschärfung der Einschränkungen der Bevölkerung.
Denn machen wir uns nichts vor: Die Ausgangsperre ist das skandalöse Resultat des Krankenhäuser überlastenden Länder-Hü-Hotts. Weil auf Länderebene wider besseres Wissen - denn alle wussten, dass die Ignoranz der 100er-Inzidenzgrenze böse ausgehen wird - gehandelt wurde, dürfen Menschen eventuell nach 22 Uhr nicht mehr draußen sein, obwohl davon nachweislich keine Gefahr ausgeht und es mehr als fraglich ist, ob die Ausgangsperre das Infektionsgeschehen effektiv verlangsamt. Das heißt: Nicht mangelnde Disziplin der Bevölkerung, sondern sein Versagen an einer kohärenten Pandemiepolitik hat dem Staat die Grundlage geschaffen, den Menschen den letzten Rest von Freiheit und Sozialität zu nehmen, der ihnen in der Pandemie bisher geblieben ist: Nach Feierabend mit anderen Menschen spazieren zu gehen.
Von dieser Demokratie unwürdigen Grundlage der Ausgangsperre muss auch das niedersächsische Oberverwaltungsgericht eine Ahnung gehabt haben, als es Anfang April die Ausgangssperre in Hannover mit den Begründungen kippte, es sei zum einen nicht belegt, dass andere, weniger freiheitseinschränkende Mittel ausreichend ausgeschöpft wurden. Und zum anderen sei es nicht zielführend, ein diffuses Infektionsgeschehen ohne ausreichende Belege auf mangelnde Disziplin der Bevölkerung nach 22 Uhr zurückzuführen. So ist es kein Wunder, dass die Zustimmung zur Pandemiepolitik vermehrt unter jenen sinkt, die nicht nur seit einem Jahr die Regeln befolgen, sondern meist bis 20 Uhr und länger an Kassen, Kinder- und Krankenbetten stehen, wie es eine kürzlich veröffentlichte Allensbacher Studie aufzeigt. Auch wenn diese Entwicklung für den Kampf gegen Corona nicht zielführend ist, so ist die schwindende Zustimmung mehr als nachvollziehbar. Denn während die Bevölkerung längst an dem Punkt ist, wo sie im Einklang mit der Wissenschaft weiß, was eigentlich zu tun wäre - Tag und Nacht impfen, Homeoffice- und tägliche Testpflicht in Unternehmen - verliert sich der Staat in ineffizienter Machtpolitik, bleibt bei effektiven Maßnahmen zögerlich und diszipliniert stattdessen die Bevölkerung - auf verächtliche Weise. Zum einen degradiert er sie zu Kindern, die er, weil sie anscheinend ab 20 Uhr anfingen, Blödsinn zu machen, spätestens um 21 Uhr ins Bett schickt. Zum anderen lässt er sie - wie ein pubertierendes Kind - für eigene Fehler und seine mangelnde Urteilskraft zum Wohle aller büßen.
(aktualiserte Online Version 20. April)


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