Patrick Viol

Der Schmerz der Verletzlichsten: 30 Jahre UN-Kinderrechtskonvention:

(pvio). Vor 30 Jahren, am 5. April 1992, trat in Deutschland die UN-Kinderrechtskonvention in Kraft. Doch viele ihrer Artikel beschreiben nach wie vor bloß ein Sollen, kein Sein.
Während die Armutsquote von unter 18-Jährigen im Jahr 2010 noch bei 18,2 Prozent lag, ist sie bis 2019 auf 20,5 Prozent gestiegen

Während die Armutsquote von unter 18-Jährigen im Jahr 2010 noch bei 18,2 Prozent lag, ist sie bis 2019 auf 20,5 Prozent gestiegen

Bild: Foto: Depositphotos/olesiabilkei

Irgendwo auf einer Straße in Athen. Ein fünfzehnjähriges afghanisches Mädchen, das gerade zwei Laibe Brot aus einer von Anwohnerinnen organisierten Armenspeisung erhalten hat, weint in die Kamera des WDRs. Weil sie davon überzeugt sei, nie etwas zu lernen, stets Analphabetin zu bleiben und aus ihrem Leben, das zur Hälfte eine Fluchtgeschichte sei, nie etwas machen zu können. Das Mädchen lebte zuvor auf der Insel Lesbos im Flüchtlingslager. Sie ist allein. Ohne Familie.
Irgendwo in Deutschland. In irgendeiner zu kleinen Wohnung in einem zu engen Vorort lebt ein Kind. Mit mehreren Geschwistern und seinen Eltern. Es gibt nicht für alle in der Wohnung ein Bett, man schläft in Schichten. Einen Schreibtisch zum Lernen sucht man vergeblich. Ein Stück Holz ist an die Wand geschraubt. An dem könnte man sitzen, um Hausaufgaben zu erledigen. Das wird zum Teil gemacht, wenn die Nachhilfelehrerin kommt. Wie es hier während der Schulschließungen zugegangen sein muss, mag man sich nicht vorstellen. Man kennt die Berichte: nicht gut.
Irgendwo in der Ukraine. Zwei Jungs unter zehn Jahren sitzen mit ihren Müttern in einem Keller. Harren dort aus, bis ihnen die Flucht gelingt. Nach Litauen. Beim dritten Versuch schaffen sie es raus aus ihrem Land, das Putin vor sechs Wochen überfallen hat. Auf das er Bomben wirft und in dem seine Armee Zivilisten brutal ermordet, Kriegsverbrechen begeht. In dem auch Kinder getötet werden.
 
Blamage vor der Realität
 
Es sind dies so kleine wie erschütternde Einblicke in das Leben von Kindern ohne Kindheit, von kleinen Menschen, denen islamistischer Terror, Armut und Krieg ihre Kindheit: die Entwicklung ihrer „Persönlichkeit in einer Familie und umgeben von Glück, Liebe und Verständnis“, wie es in der UN-Kinderrechtskonvention heißt, geraubt haben. Es sind Einblicke, die zeigen, dass die politisch-ökonomische Gewalt, die auf der Welt von West nach Ost, von Nord bis Süd herrscht, auch mit voller Wucht die Kleinsten und Zerbrechlichsten unter uns trifft.
Und schließlich sind es Eindrücke, die offenlegen, dass der Anspruch der vor 30 Jahren ratifizierten UN-Kinderrechtskonvention, das Wohl des Kindes „bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden (...) vorrangig zu berücksichtigen“, sich vor der Realität schmerzlich blamiert.
 
Geflüchtete Kinder in Deutschland
 
Egal ob Chancengerechtigkeit durch Bildung, ein Aufwachsen ohne Gewalt, die Förderung eines gesunden Lebens und gesunder Umweltbedingungen, die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen oder eine Entwicklung eines angemessenen Lebensstandards für alle Kinder, wie hierzulande einige Umsetzungsabsichten der UN-Konvention lauten - Anspruch und Realität hinsichtlich des Kinderschutzes fallen grob auseinander. Das belegen auch immer wieder Studien.
So zeigt der vom Flüchtlingsrat Niedersachsen kürzlich veröffentlichte Forschungsbericht zur Situation unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter in Deutschland, dass sie - obwohl die Regierung sich dem Schutz von nicht-ausländischen wie ausländischen Kindern gleichermaßen verpflichtet sieht - unter „enormen Druck“ stünden. Dieser gehe von der „rechtlichen Unsicherheit, eventuell bei Erreichen der Volljährigkeit abgeschoben zu werden, aus. Also von der Regierung selbst.
Auch gäben ablehnende gesellschaftliche Debatten über Migration jungen Geflüchteten das Gefühl, „hier nicht gewollt zu sein“, was ihre Integrationsfähigkeit negativ beeinflusse. Zudem sei die durch die Asylpolitik nach wie vor in vielen Fällen versursachte Trennung von Familien psychisch schwer zu verarbeitende Erfahrungen für junge Geflüchtete.
Und schließlich kommt auch Kritik von den für minderjährige Geflüchtete zuständigen Jugendhilfeeinrichtungen, da sie nicht die Mittel und Ressourcen hätten, bedarfsgerecht auf die Bedürfnisse junger Geflüchteter einzugehen. Notwendig sei das aber, wie der Flüchtlingsrat fordert.
 
Arme Kinder in Deutschland
 
Ebenso halbherzig wie der Schutz junger Geflüchteter erfolgt der Kampf gegen Kinderarmut. Auch wenn parteiübergreifend jede:r Amtsträger:in die Bekämpfung von Kinderarmut im Munde führt - effektiv getan haben sie in dieser Hinsicht wenig. Wiederholend. Denn betrachtet man die Armutsquote von Minderjährigen, hat sich die Situation aller Beteuerungen zum Trotz sogar verschlechtert. Während die Armutsquote von unter 18-Jährigen im Jahr 2010 noch bei 18,2 Prozent lag, ist sie bis 2019 auf 20,5 Prozent gestiegen. Das sind rund 2,8 Millionen Minderjährige. Mehr als jedes fünfte Kind lebt damit in Armut. Zudem: Minderjährige leben sogar überdurchschnittlich in Armut. Waren 2020 16,1 Prozent aller Menschen in Deutschland arm, so waren es 20,2 Prozent aller Minderjährigen.
 
Schlechter Start der neuen Regierung
 
Nun hat sich die neue Bundesregierung vorgenommen, sich dieser Missstände tatkräftiger anzunehmen als ihre Vorgängerin. Einen guten Start hingelegt hat sie dabei bislang aber nicht. So hat sie weder bis Ende März diesen Jahres nationale Aktionspläne zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention verpflichteten EU-Kindergarantie vorgelegt noch eine:n nationale:n Koordinator:in für die Europäische Kindergarantie ernannt, obwohl sich die große Koalition im Juni 2021 auf EU-Ebene dazu verpflichtete.
Dass derzeit Krieg in Europa herrscht, kann hierfür keine Ausrede sein. Im Gegenteil. Er macht effektiven Kinderschutz nur dringlicher. Und nicht zuletzt wäre ein konsequenter Kinderschutz ein Versuch der Wiedergutmachung für die vom Ethikrat in dieser Woche beanstandete sträfliche Vernachlässigung von Kindern in der Pandemie durch die Politik.


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