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Lena Stehr und Patrick Viol

Anstecknadeln reichen nicht

Auf Ehrenamtlichen liegt in der Krise ein immenser Druck. Engagierte wünschen sich besserer Rahmenbedingungen für ihr Engagement.

Ehrenamtliche halten den Laden am Laufen, doch langsm stockt das Getriebe.

Ehrenamtliche halten den Laden am Laufen, doch langsm stockt das Getriebe.

Bild: Freepik.com

Im Sport- oder Bürgerbusverein, bei der Feuerwehr und in der Flüchtlingshilfe, bei den Tafeln oder bei der Opferschutzorganisation Weisser Ring - Mehr als 30 Millionen Menschen engagieren sich in Deutschland ehrenamtlich - also freiwillig und ohne Bezahlung für das Gemeinwohl. In Niedersachsen trifft das auf fast die Hälfte der Menschen über 14 Jahre zu.

Doch für viele der Engagierten lassen die Rahmenbedingungen - nicht zuletzt aufgrund nicht abreißender sozialer Krisen seit 2008 - zu wünschen übrig: In mindestens Dreiviertel der Organisationen fehlen bereits heute Freiwillige, sowohl in den Leitungsgremien als auch in der täglichen Arbeit. Jeder Zehnte fühle sich überfordert und mehr als jeder Zehnte würde gerne kürzertreten. Eine große Mehrheit wünsche sich weniger Verwaltungsaufwand, mehr finanzielle Mittel, eine bessere Ausstattung mit Räumen und Materialien sowie mehr Wertschätzung und Verständnis vonseiten der Kommunen und Behörden, letztlich vom Staat.

In Erfahrung gebracht wurden diese Einblicke in die Situation und Wünsche der Ehrenamtlichen durch eine wissenschaftlich begleitete Onlineumfrage, welche die im Juni 2020 vom Niedersächsischen Landtag eingesetzte Enquetekommission durchgeführt hat.

Schwierigkeiten ausgesetzte sieht sich auch Gabriele von Lessel-Drettmann bei ihrer Arbeit im Förderkreis der St. Willehadi-Kirche: „Es fehlt trotz Spenden und Fördermitteln an Geld. Zudem bereitet die zögerliche Nachwuchsgewinnung Sorge.“ Und Daniela Esmann, Trainerin im Leistungsturnen des VSK wünscht sich, dass die tolle und notwendige Arbeit der Ehrenamtlichen weniger als selbstverständlich wahrgenommen wird. Esmann und von Lessel-Drettmann sind zwei von 50 für ihr ehrenamtliches Engagement in Osterholz-Scharmbeck und Umgebung im Vorfeld des internationalen Tags des Ehrenamts von Bürgermeister Torsten Rohde Geehrten. Beide betonen aber auch, dass sie sich nicht für die Anerkennung, sondern für die Menschen engagieren.

 

Nachwuchsproblem

 

Das heißt aber nicht, dass man den Engagierten die Arbeit nicht erleichtern sollte - Anstecknadeln reichen nicht und sorgen auch nicht dafür, dass die Nachwuchsfrage ihre Bedrohlichkeit verliert. Die treibt auch Andreas von Glahn, Vorsitzender von „TANDEM e.V. - soziale Teilhabe gestalten“ und Vorsitzender des Rotenburger Kreisverbandes des Paritätischen um. Es werde vor allem für kleinere Vereine immer schwerer, Menschen zu finden, die Posten im Vorstand übernehmen wollen. Viele hätten Angst vor zuviel Verantwortung, durch teils schwierige Rahmenbedingen gehe die Motivation verloren und überhaupt hätten sich viele Menschen im Zuge Pandemie immer mehr zurückgezogen.

 

Konkrete Forderungen

 

Entsprechend fordern nicht nur die einzelnen Ehrenamtlichen, sondern auch ihre Vereine und Verbände Verbesserungen der Rahmenbedingungen, und das ganz konkret: Der Sozialverband VdK Niedersachsen-Bremen, in dem sich rund 2.000 Ehrenamtliche engagieren, sieht Verbesserungsmöglichkeiten durch Ehrenamtskarten, Kompetenznachweise, kostenlose Nutzung von Bus und Bahn oder öffentlichen Parkplätzen. Auch die gesetzlichen Rahmenbedingungen müssten verbessert werden: kostenlose Weiterbildung und Qualifizierung, Bildungsurlaub, Aufwandsentschädigungen und die Anhebung der Steuerfreibeträge wären sinnvoll, so Sprecherin Christina Dieckmann. Außerdem brauche es einen Rechtsanspruch auf bedingungslose Gewährung einer Assistenz für Menschen mit Behinderung zur Ausübung ihres Ehrenamts. Darüber hinaus sei dringend eine Entlastung ehrenamtlicher Pflegekräfte geboten.

Gerade im Pflegebereich wird deutlich, dass ehrenamtlich tätige Menschen nicht nur aus Mitgefühl, sondern auch aus der Sorge heraus gratis Arbeit leisten, dass es sonst keiner macht.

 

Rückzug des Staates

 

Im Hinblick auf den Staat ist diese Sorge berechtigt. Denn der hat sich aus vielen Bereichen der Daseinsfürsorge zurückgezogen. (Hintergrund Seite 3) Darauf verweist auch Klaus Sass, stellvertretender Bürgermeister in Osterholz-Scharmbeck: Ehrenamtliche übernähmen „zuverlässig und kontinuierlich immer mehr Aufgaben, welche eigentlich in das Ressort des Staates fallen. Kaum vorstellbar, wie das Gemeinschaftsleben verlaufen würde, gäbe es die Ehrenamtlichen nicht.“

Diese die Freiwilligkeit des Ehrenamtes relativierende Angewiesenheit der Gesellschaft auf das Ehrenamt sei derzeit auch besonders gut an den Tafeln zu erkennen, so von Glahn. Die werden derzeit überrannt bzw. können die gestiegene Nachfrage nicht mehr bedienen. Das sei aber nicht das grundlegende Problem. Ein politisches Armutszeugnis sei bereits die Notwendigkeit von deren Existenz, da sie beweise, dass immer mehr Menschen trotz staatlicher Hilfe nicht über die Runden kommen. Was die Ehrenamtlichen bei den Tafeln leisten, werde dabei leider zu oft als selbstverständlich gesehen.

Doch bei aller Kritik an der staatlichen Verweigerung, Armut zu bekämpfen und sie stattdessen von solidarischen Menschen verwalten zu lassen - dass Menschen in Anbetracht von Not Verantwortung übernehmen, sei Kern des Menschseins, so von Glahn. Und zum Glück gibt es noch verantwortungsvolle Menschen.


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