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Dr. Christine Zunke

Essay: Leistung und Todeswunsch

Die Tötung auf Verlangen ist in Deutschland verboten, das Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zum Suizid wurde hingegen für nichtig erklärt, da es gegen die Selbstbestimmung verstoße. Doch ein ethisches Dilemma bleibt
 
Die gesellschaftlichen Folgen einer legalen Sterbehilfe reichen tiefer und führen indirekt zu einer Normierung des lebenswerten Lebens, die uns alle betrifft.
 Foto: adobestock/kieferpix

Die gesellschaftlichen Folgen einer legalen Sterbehilfe reichen tiefer und führen indirekt zu einer Normierung des lebenswerten Lebens, die uns alle betrifft. Foto: adobestock/kieferpix

Die Tötung auf Verlangen ist nach § 216 StGB in Deutschland verboten. Das Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zum Suizid, also z.B. die Bereitstellung eines tödlichen Medikaments durch medizinisches Fachpersonal, wurde Anfang 2020 vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt, da es gegen das im Grundgesetz fest verankerte Recht auf Selbstbestimmung verstoße. Doch ein ethisches Dilemma bleibt.
Nach derzeitiger juristischer Lage dürfen nur jene Menschen sicher und schmerzfrei aus dem Leben scheiden, die in der Lage sind, die entsprechenden Medikamente selbständig einzunehmen. Wer das nicht (mehr) kann, weil er beispielsweise vom Hals abwärts gelähmt ist, darf nicht selbstbestimmt sterben. Wer einem solchen Menschen beim Schlucken des Giftes hilft, leistet aktive Sterbehilfe und muss mit einer Gefängnisstrafe von bis zu 5 Jahren rechnen.
 
Weitreichende Folgen
 
Diese derzeitige Gesetzeslage erscheint als widersprüchlich und ungerecht, viele Menschen fordern eine Legalisierung der aktiven Sterbehilfe. Es ist zunächst einleuchtend, dass unheilbar Schwerstkranke nicht gegen ihren ausdrücklichen Willen zum Weiterleben gezwungen werden sollen. Doch die gesellschaftlichen Folgen einer legalen Sterbehilfe reichen tiefer und führen indirekt zu einer Normierung des lebenswerten Lebens, die uns alle betrifft.
Denn die freie Selbstbestimmung des Einzelnen ist in keiner diskutierten Variante hinreichend, um Sterbehilfe zu erhalten. Die Gründe für den Todeswunsch müssen allgemein anerkannten Kriterien entsprechen. So beinhaltet die Sorgfaltspflicht in den Niederlanden, dass sterbewillige Patient:innen von zwei unabhängigen Ärzt:innen untersucht werden müssen, die zu dem einhelligen Schluss kommen, dass der Zustand des:r Patient:in aussichtslos und das Leiden unerträglich ist. Entscheidend ist also nicht allein der Wille des Einzelnen, sondern es müssen objektive medizinische Kriterien hinzukommen, die belegen, dass dieses Leben nicht mehr lebenswert ist.
Hier sehen Kritiker:innen die Gefahr eines ‚Dammbruchs‘: Denn wenn es objektive Kriterien für das Gewähren von Sterbehilfe gibt, dann wäre es ungerecht, sie jenen zu verwehren, die sich nicht (mehr) selbstbestimmt äußern können. Daher folge aus der Legalisierung aktiver Sterbehilfe unweigerlich auch die Tötung ohne Verlangen. So ist 2013 in den Niederlanden auch die Praxis des Tötens von schwerstkranken Neugeborenen durch den behandelnden Arzt legalisiert worden.
 
Gesellschaftliche Antworten
 
Die Kriterien zur Gewährung der Sterbehilfe unterscheiden sich in den verschiedenen Ländern teilweise erheblich. So werden in den Niederlanden oder in Belgien psychische Krankheiten den körperlichen Leiden gleichgestellt, während im amerikanischen Oregon der Sterbewunsch eines chronisch Depressiven als Symptom der Krankheit und nicht als selbstbestimmter Wille gewertet wird.
Die Frage, wer sterben darf und wer nicht, muss also gesellschaftlich beantwortet werden. Und diese Antworten legen einen Maßstab fest, unter welchen Umständen das Weiterleben eines Menschen sich nicht mehr lohnt. Damit wird indirekt der Wert des Lebens aller Menschen in Frage gestellt, die die Kriterien für eine legale Sterbehilfe erfüllen. Stephen Hawking oder der frühere Superman-Darsteller Christopher Reeve hätten alle Kriterien erfüllt, doch sie empfanden ihre Leben als Schwerstbehinderte als wertvoll, da sie durch ihre Arbeit einen Beitrag für die Gesellschaft leisten konnten. Weniger prominente Menschen können aber oft auch mit kleineren Gebrechen keinen Beitrag für die Allgemeinheit leisten und empfinden sich als nutzlos und als Belastung für Angehörige.
 
Die Gefahr der Leistungsgesellschaft
 
Der individuelle Wert des Lebens bemisst sich in unserer Leistungsgesellschaft oft unbewusst an der Nützlichkeit. Die Sorge, nicht mehr leistungsfähig und selbstständig zu sein, steht tatsächlich viel häufiger hinter dem Wunsch nach Sterbehilfe, als die mit einer Krankheit einhergehenden Schmerzen. Eine Legalisierung der Sterbehilfe würde diese leitungsorientierte Entwertung von behinderten, kranken und alten Menschen verstärken. Wer sich trotz schwerer Behinderung oder Krankheit gegen den Tod entscheidet, läuft Gefahr, sich für sein Weiterleben rechtfertigen zu müssen.
Die Legalisierung und Liberalisierung der aktiven Sterbehilfe hat damit eine normierende Funktion: Sie zieht unweigerlich eine Grenze zwischen den Leben, die wertvoll und lebenswert sind und jenen, die es nicht (mehr) sind. Dies stellt insbesondere in unserer Leistungsgesellschaft eine große Gefahr dar und führt in ein ethisches Dilemma: So ungerecht es ist, leidenden Menschen ihren Wunsch zu Sterben zu verweigern, so unmenschlich ist es auch, einen objektiven Maßstab dafür aufstellen zu wollen, wann ein Leben nicht mehr lebenswert ist. Die aktuellen Widersprüche in der Rechtsprechung sind Ausdruck dieses Dilemma. Eine gute Lösung kann nur gefunden werden, wenn gesellschaftliche Solidarität mit allen Menschen einen größeren Wert hat als individuelle Leistungsfähigkeit und Nützlichkeit.
 
Dr. Christine Zunke ist Philosophin und lehrt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihre Forschung fokussiert die moralischen und politischen Implikationen moderner Naturwissenschaften. Sie ist Leiterin der Forschungsstelle Kritische Naturphilosophie
 


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