

Nds/ROW. Im Landkreis Rotenburg-Wümme brachte die evangelische Kirche in den fünfziger und sechziger Jahren Heimkinder auf Gehöften und in Handwerksbetrieben unter. Einige Bewohner erinnern sich noch an die Kinder – auch daran, dass sie „beim Spielen nie dabei waren“. Doch nicht nur das.
Auf dem Dachboden der Gemeinde Elsdorf entdeckte Akten, auf die Mitarbeiter im vergangenen Jahr stießen, legen nahe, dass manche der Kinder in den Familien Gewalt erfuhren. Über die erste Auswertung berichtete im Juni Landeskirchenpräsident Jens Lehmann bei einem Besuch in Elsdorf. Denn in 17 Fällen enthalten die Unterlagen Hinweise auf sexuelle Misshandlungen.
Als nächsten Schritt kündigte Lehmann an, die Akten einer externen Stelle zu übergeben. Eine Zusage gebe es bereits, teilt Rebekka Neander von der Pressestelle der Landeskirche Hannover mit. Wegen der Sommerferien stehe der Vertrag jedoch noch aus. Beginnen solle die Auswertung im Januar 2026, Ergebnisse würden innerhalb von zwei Jahren erwartet.
Unklarheit bezüglich der Aktenfunde
Wie genau es zu den Aktenfunden im Elsdorfer Gemeindehaus kam, bleibt in der Darstellung der Landeskirche unklar. Mal ist von einer sommerlichen Aufräumaktion die Rede, mal von einem Hinweis aus der Gemeinde im Februar des Vorjahres. Möglich ist auch, dass die Ergebnisse der im Januar 2024 veröffentlichten ForuM-Studie, die bundesweit zu sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie geforscht hatte, Anlass für Nachforschungen gaben. Öffentlich machte die Landeskirche die Funde schließlich am 23. September 2024.
Konflikte im Dorf
Elsdorfs Pastor Volker Klindworth und Superintendent Carsten Stock erklärten nach einer ersten Durchsicht, „dass das Material umgehend in kompetente Hände außerhalb der Kirchengemeinde und der dörflichen Strukturen gelangen müsse“. Das stieß im Ort auf Kritik. Wiederholt sollen sie gefragt worden sein, warum die Akten nicht einfach entsorgt wurden.
Veranstaltungen zu dem Thema hätten die Dorfgemeinschaft „aufgewühlt“. Familien, die einst Heimkinder aufgenommen hatten, fürchteten, unter Generalverdacht zu geraten. Die geplante externe Studie soll sich nach Lehmanns Worten jedoch auf die Versäumnisse kirchlicher Strukturen konzentrieren.
Die Akten enthalten auch Briefe, in denen Kinder ihre Gewalterfahrungen dem Elsdorfer Pastor schilderten, der 2014 wegen sexuellen Missbrauchs gemeldet worden war – zu diesem Zeitpunkt war er aber bereits verstorben.
Respekt und Kritik
Dem entschiedenen Handeln der Kirchenvorstände in Elsdorf zollte Lehmann bei seinem Besuch Respekt. Die Landeskirche sei ihnen zu großem Dank verpflichtet, betonte er. Ein Satz, der nicht zufällig betont wirkt – steht die Landeskirche doch seit Jahren wegen ihres Umgangs mit Missbrauchsfällen in der Kritik.
So stellte eine unabhängige Studie im vergangenen Jahr schwerwiegende Fehler in der Aufarbeitung von Missbrauch in der Kirchengemeinde Oesede-Georgsmarienhütte in den siebziger Jahren fest. Die Landeskirche habe seit 2010 Kenntnis von den Vorwürfen gehabt, sei jedoch untätig geblieben. Auch die dortige Gemeinde kritisierte mangelnde Unterstützung und fehlende Kritikfähigkeit bei Landesbischof Ralf Meister. Gegen ihn gab es wiederholt Rücktrittsforderungen von Betroffenen, zuletzt im Zusammenhang mit dem Fall des Pastors Klaus Vollmer.
Nur wenige Tage nach Lehmanns Besuch in Elsdorf veröffentlichte die Aufarbeitungskommission ihren Bericht zu Vollmer. Sie kritisiert, die Landeskirche habe zu zögerlich reagiert und die glaubhaften Meldungen eines minderjährigen Betroffenen nicht entschieden genug verfolgt. Die Übergriffe Vollmers, der als eine Art Guru in seiner 1970 gegründeten Bruderschaft „Kleine Brüder vom Kreuz“ auftrat, waren spätestens seit 2017 bekannt. Die Glaubensgemeinschaft startete daraufhin einen eigenen Aufarbeitungsprozess, während die Landeskirche lediglich finanzielle Unterstützung bot, aber keine Verantwortung übernahm – obwohl Vollmer ordinierter Pastor war. Die Studie empfiehlt nun, gegen zwei Pastoren Disziplinarmaßnahmen zu prüfen, die Vorwürfen eines Minderjährigen nicht nachgegangen waren.
Die Rolle der Pestalozzi-Stiftung
Am Rande des Falls in Elsdorf wird auch die Pestalozzi-Stiftung in Burgwedel genannt, die neben dem Elsdorfer Pastor an der Vermittlung der Heimkinder beteiligt war. Von 1960 bis 1984 leitete Pastor Hans-Georg Badenhop die Stiftung. 2018 bewertete die Kirche die Aussage eines Mannes als glaubwürdig, der als Elfjähriger von sexuellem Missbrauch durch Badenhop berichtete.
Ob die Elsdorfer Aktenfunde Hinweise auf Badenhops Rolle bei der Vermittlung der Heimkinder enthalten, ließen weder die Pestalozzi-Stiftung Burgwedel noch die Landeskirche Hannover bis Redaktionsschluss wissen.